Die Kinder des Prager Frühlings probieren den Ausstand

■ Alles kommt jetzt darauf an, ob die ArbeiterInnen den Generalstreik in der Tschechoslowakei landesweit unterstützen / Demonstrationen gehen weiter

Zum ersten Mal seit 1968 wird heute in der CSSR landesweit gestreikt. Wenn ab zwölf Uhr die Arbeit ruht, demonstrieren wieder Millionen gegen die Herrschaft der Partei. Das Sammelbecken der Opposition, das Bürgerforum, will keine Ruhe geben, bis freie Wahlen festgelegt und die bürgerlichen Rechte durchgesetzt sind. Die Jugend spielt bei diesem Aufstand eine besondere Rolle.

Tausende Kirchenglocken werden heute um zwölf Uhr den zweistündigen Generalstreik in der Tschechoslowakei festlich einläuten. Daß dem Aufruf des Bürgerforums und des studentischen Streikkomitees in Prag weit über die Hälfte aller Betriebe folgen werden, gilt nach den Entwicklungen der letzten Tage als sicher; die Entrüstung, die sich nach dem Bekanntwerden der neuen Zusammensetzung des Präsidiums des Zentralkomitees der KP der Tschechoslowakei breitmachte, hat die Protestbereitschaft der TschechInnen und SlowakInnen noch verstärkt. Transparentaufschriften wie „Das alte Spiel in einer neuen Besetzung“ und „Achtung, noch haben wir nicht gewonnen!“ sind Ausdruck der Meinung der schätzungsweise 750.000, die sich am Samstag nachmittag auf der sonst staatlichen Massenkundgebungen vorbehaltenen Letna-Anlage versammelten. Der Dramatiker Vaclav Havel brachte es auf den Punkt: „Diesen Leuten kann man nicht trauen. Aber da sie unfähig sind, sind sie auch ungefährlich.“

Dabei hatte noch am Abend zuvor die ganze Stadt gefeiert. Mitten hinein in die Pressekonferenz von Alexander Dubcek, Jiri Hajek und Vaclav Havel war die Nachricht über den Rücktritt von Präsidium und Sekretariat geplatzt. Die anwesenden tschechoslowakischen JournalistInnen klatschten stürmisch Beifall, die Symbolfiguren des Prager Frühlings und der Charta 77 umarmten sich, eine erste Flasche Sekt wurde geöffnet. Auf dem Wenzelsplatz herrschte Jubel: Mit Nationalfahnen geschmückte Autos fuhren mehrere Runden um den Wenzelsplatz, FahrerInnen betätigten minutenlang ihre Hupen. Jugendliche grüßten sich mit dem Victory-Zeichen und selbst der tschechoslowakische Rundfunk meldete lachende Gesichter. Nachdem das staatliche Fernsehen Stunden zuvor noch die Falschmeldung verbreitet hatte, daß der Streik der Prager Studenten am Montag zu Ende gehe, vollzog es an diesem Abend nun seine „Wende“: Ausführlich berichtet wurde nicht nur über die Massendemonstrationen - gezeigt wurden auch die Videoaufnahmen des brutalen Polizeieinsatzes am 17.November.

Jahrzehntelange Tabus werden in diesen Tagen in Prag gebrochen. Viele Nachrichten erscheinen unglaubwürdig, werden aber später bestätigt. Die Strukturen, die die KP zur Organisierung der ArbeiterInnen geschaffen hat, werden auf einmal gegen sie verwandt. In den Betrieben tagen die Basisorganisationen. Mit Geld- und Papierspenden, Autos, Vervielfältigungsgeräten, Lautsprechern und Telefonapparaten wird der Aufbau der oppositionellen Infrastruktur unterstützt.

Der Opposition schließen sich jedoch auch Gruppen an, die die strukturellen Probleme der Planwirtschaft bisher zu ihren Gunsten nutzen konnten. Taxifahrer und Kellner zeigen blauweißrote Flagge, die Studenten machen Witze darüber, daß bald auch die „Schwarzgeldwechsler“ neben Havel stehen werden. Viele Auseinandersetzungen von gestern scheinen heute vergessen. Stürmisch begrüßten Demonstranten den Vertreter der Roma-Organisation. Obwohl diese vor allem in der Slowakei meist unter erbärmlichen Bedingungen leben, sind sie für den überwiegenden Teil der Bevölkerung Diebe, Schmuggler und Schwarzhändler.

Überraschend ist jedoch auch die Zusammensetzung des Bürgerforums. Was mag den Unterzeichnern der Charta 77 durch den Kopf gehen, wenn sie Jiri Dienstbier neben Michal Horacek sitzen sehen - jener jahrelang mit Berufsverbot belegter Journalist, dieser Chefredakteur von 'Mlady-Svet‘ (Junge Welt), der bedeutendsten Jugendzeitung des Landes. Für die Opposition hat sich Horacek bisher kaum interessiert: „Die neue Opposition ist die Kommunistische Partei.“ Vor nur zwei Monaten gegründet, ist seine Gruppe „Most“ als „Brücke“ nun entscheidend für die Kontakte zwischen Ministerpräsident Adamec und dem Bürgerforum.

Aber auch auf der anderen Seite vollziehen sich grundlegende Veränderungen. Hatte der Ministerpräsident noch vor wenigen Monaten Havel als „Null“ bezeichnet, muß er unter dem Druck des konservativen ZKs nun wegen seiner ersten Kontakte zum Bürgerforum den Platz im Politbüro räumen. Auf der Sitzung der Prager Parteiorganisation fordern Arbeiter den Rücktritt ihres Vorsitzenden Miroslav Stepan. Die Bezirksorganisation in Pilsen entschließt sich zur Unterstützung des Generalstreiks. Immer lauter werden die Forderungen nach einem außerordentlichen Parteitag.

Inzwischen sind es nicht mehr nur Resolutionen, die die Schaufensterscheiben fast vollständig bedecken. Immer mehr Gedichte belegen erneut die Rolle, die Schriftsteller in der Geschichte der Tschechoslowakei stets spielten.

Im 19. Jahrhundert trugen sie zum „nationalen Wiedererwachen“ des von den Habsburgern unterdrückten tschechischen Geistesleben bei, 1948 unterstützten sie die Machtübernahme der Kommunisten, 1967 leitete ihr Kongreß den Prager Frühling ein. Jeden Tag aufs neue feiert das Land SchauspielerInnen und KünstlerInnen, die sich dem Bürgerforum anschließen. Martha Kubifova, J. Kremr, J. Honcelka und viele andere sind die moralischen Stützen der Bewegung. Immer wichtiger dürften in den nächsten Tagen jedoch inhaltliche Aussagen werden.

Wie die Reaktionen der Demonstranten auf einige konkrete Angaben über die derzeitige wirtschaftliche Misere der Tschechoslowakei zeigten, darf die Diskussion über das politische Reformkonzept nicht nur in den Kommissionen des Bürgerforums gezeigt werden. Noch nicht entschieden wurde bis jetzt über die Aktionen, die nach dem heutigen Generalstreik den Druck auf die Parteiführung weiter verstärken sollen; das Forum hat zur permanenten Streikbereitschaft aller aufgefordert, ein ganztägiger Generalstreik wird in Erwägung gezogen.

Katerina Wolf, Prag