: Dioxin: kleine Dosis - große Wirkung
Aufsehenerregende Hamburger Studie über Dioxine in Holzschutzmitteln beweist: auch kleinste Dioxindosen zeigten erhebliche gesundheitsschädigende Wirkung / Untersuchung an Kindern in Hamburger KiTas ■ Von Gabi Haas
Hamburg (taz) - „Dieses ist der aufregendste Tag für uns seit dem 9. November“, urteilte der Hamburger Arbeitsmediziner Professor Manz am Wochenende am Ende einer Wissenschaftlertagung, die in der Dioxinforschung Geschichte machen könnte. Gestritten wurde über die weltweit größte Studie zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Holzschutzmitteln bei Kindern, die von Medizinern des Hamburger Universitätskrankenhauses Eppendorf (UKE) erstellt wurde und kurz vor ihrer Veröfffentlichung steht. Die Untersuchung von 419 Kindern aus Kindertagesstätten, deren Innenraumluft mit Holzschutzmitteln verseucht war, hatte bei den kleinen Probanden auffällige Abweichungen der Leber-, Schilddrüsen- und Immunwerte ergeben.
Welche Bedeutung der sogenannten Hamburger Kindergartenstudie in der internationalen Fachwelt beigemessen wird, mag ein Blick auf die Teilnehmerliste der Expertentagung beantworten: Über dreißig Dioxinexperten, unter anderem aus Holland, Schweden, Italien, der CSSR und den USA waren am vergangenen Wochenende nach Hamburg gereist, um über die aufsehenerregende Dioxinstudie zu diskutieren. Nur die Mitarbeiter des Bundesgesundheitsamtes waren zu Hause geblieben und verpaßten so einen außergewöhnlichen Expertendisput. Denn wann hat es das schon einmal gegeben, daß bei einer großen und politisch brisanten Studie während des gesamten Untersuchungszeitraumes den Betroffenen (in diesem Fall den Eltern der untersuchten Kinder) ein Informations- und Mitspracherecht eingeräumt wird, und daß sich die Autoren noch vor einer endgültigen Veröffentlichung den bohrenden Fragen der nicht immer wohlgesonnen Fachkollegen stellen.
Nicht nur die chemische Industrie - auf der Tagung vertreten durch einen Mitarbeiter der Hoechst AG- und das Bundesgesundheitsamt, auch die an der Studie selbst beteiligten Kinderkliniken vom UKE sind offenkundig an einem Herunterspielen der Untersuchungsergebnisse interessiert. Auf Druck der Eltern aus den verseuchten KiTas und der Gesundheitsbehörde hatten sie sich zwar zu einer Mitarbeit bereitgefunden, doch nach Aussage des Elternbeirats kein Interesse an einem Erfolg der Studie gezeigt. Im Gegenteil: wichtige Daten fehlen heute, weil sie von den Klinikern als „Kaffeesatzlesen“ abgeblockt wurden und die kinderärztlichen Untersuchungen sowie das Abfragen von Krankheitssymptomen per Fragebögen wurden so schlampig durchgeführt, daß sie für die statistische Auswertung nicht zu gebrauchen waren. So konnten sich die Medizinsoziologen Wilfried Karmaus, Tanja Plcas und ihre Mitarbeiter bei der empirischen Auswertung nur auf die Ergebnisse der Blut- und Urinanalysen aus dem Labor stützen. Rund 1.700 Angaben für jedes der 419 Kinder aus den belasteten KiTas und für eine Kontrollgruppe von weiteren 206 unbelasteten Kindern speisten die Empiriker in ihre Computer ein, um sich durch diese außergewöhliche Datenflut gegen alle nur erdenklichen Einwände abzusichern. Sie hatten allen Grund dazu: Es habe Intrigen hinter den Kulissen gegeben, berichtete Karmaus auf dem Hamburger Kongreß, er selbst habe „viele Tritte bekommen“.
Angefangen hatte alles im Jahre 1985, als ein Umweltingenieur bei der Begutachtung eines Kindergartens in Schenefeld am Hamburger Stadtrand den Verdacht äußerte, daß Holzschutzmittel für die Beschwerden von Kindern und BetreuerInnen wie Übelkeit, Mattigkeit verantwortlich sein könnten. Messungen in der Innenraumluft und im Hausstaub ergaben eine Belastung mit den Holzschutzmitteln Pentachlorphenol (PCP) und Lindan (HCH) sowie mit Dioxin, die als Nebenprodukte in den Holzschutzmitteln enthalten sind. Anschließende Messungen von Kindergärten desselben Bautyps, reine Holzbauten aus den sechziger und siebziger Jahren, ergaben Dioxinkonzentrationen bis zu 1,65 Picogramm TCDD-Äquivalenten/Kubikmeter Luft. Die Hamburger Gesundheitsbehörde entschloß sich zu umfassenden Sanierungsmaßnahmen ab einem Dioxingehalt von 0,5 pg/Kubikmeter, während das BGA bis heute an einem Grenzwert von ein bis zehn pg festhält. So kommt es, daß der Elternbbeiratsvorsitzende Günter Bosien noch immer allabendlich Telefonanrufe aus der ganzen Bundesrepublik erhält, in denen besorgte Eltern ihn mit ihren Fragen bombardieren. Rund vierhundert solcher Gebäude, so schätzt Bosien, dienen heute noch als Kindergärten oder Schulen, Hunderttausende von Wohnungen sind mit den dioxinhaltigen Holzschutzmitteln verseucht.
Die von den betroffenen Eltern vor drei Jahren buchstäblich erkämpfte Reihenuntersuchung hat jetzt gezeigt: Selbst die gegenüber so manchem Arbeitsplatz relativ geringen Dioxinkonzentrationen bewirkten bei den Kindern je nach Dauer des KiTa-Aufenthalts eine signifikante Veränderungen der Immunabwehr (Anstieg der T4-Zellen und eine Erhöhung der Immunglobuline A und M), Abweichungen im Schilddrüsenhaushalt, im Fett- und Leberstoffwechsel. Während nun aber die an der Studie beteiligten Kinderkliniken nicht müde werden zu betonen, daß keines dieser Kinder klinisch krank sei und fast alle gemessenen Werte noch „innerhalb der Norm“ seien, kommt es Karmaus und der Mehrheit der Experten der Tagung auf etwas ganz anderes an: Entscheidend sei, daß eine Wirkung zwischen der Holzschutzmittelbelastung und den organischen Funktionen eindeutig feststellbar sei. Nicht nur der Kieler Toxikologe Professor Otmar Wassermann warnte, die Gefahr sei eher, die Studienergebnisse zu unterschätzen als zu überschätzen: Sie liefern wichtige Erkenntnisse - vor allem auch für die Arbeitsmedizin. Mit großer Mehrheit forderten Eltern und Wissenschaftler eine Fortsetzung der Arbeit in Form einer Langzeitstudie. Sie hätten sich gefreut, hätten sie jenen Worten eines Behördenmitarbeiters gelauscht, der auf dem Flur seinem Kollegen zuraunte: „Jetzt können wir nicht mehr zurück.“
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