: 1968
■ Der Augenzeugenbericht eines Letten, der im August 1968 als Sowjetsoldat die CSSR okkupiert
Juris Kunnoss
Am 22.Juli 1968 gab's Alarm, es begannen die scheinbar üblichen Sommerübungen: mit Zelten, Feldküchen, Mahorka -Zuteilungen, bedrückendem Warten voller Ungewißheit und plötzlicher, fieberhafter Verlegung von Punkt A auf Punkt B durch viele andere Buchstaben des Alphabets hindurch. In der Gegend von Kaliningrad (weiland Karalauci, Königsberg) wurde unsere Untereinheit auf 15,1 Tausend km2 Fläche zwischen 700.000 Zivilisten stationiert. Hier hatte ich schon zwei Monate gedient, im Sanitätszug die Geschwüre an den Beinen kuriert, die ich vom Ausbildungsregiment mitbekommen hatte, als Zugabe zum Abzeichen eines jüngeren Sergeanten auf den Schulterklappen, - hier konnte man nach der harten Dressur aufatmen, beim Appell auf dem Platz an die vom Klassiker beschriebenen Predigten des Feldkuraten Katz1 in der Garnisonskirche denken, am Samstag durchs Tor auf Stadturlaub gehen, werktags jedoch über den Zaun klettern. Es gab Fernsehen, eine Bibliothek, Zeitungen. Unter anderem tauchten oft Nachrichten über die tschechoslowakischen Spitzenpolitiker auf: den glühenden Wunsch, sich mit ihnen zu treffen, verspürten sowohl die Führer des Sowjetlandes als auch die politischen Konsultativorgane der Staaten des Warschauer Pakts als auch die Funktionäre des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe.
Die mit zugänglichen Informationen waren, wie anders, einseitig, im Politunterricht wurde die Armeezeitschrift 'Krasnaja Zvezda‘ benutzt. In den Zeitungen, die ich von zuhause erhielt, suchte ich zuerst nach den Sportseiten, dann nach den Nachrichten aus dem Ausland, Beiträgen über das sogenannte kulturelle Leben und, ich geb's ja zu, über Verschiebungen und Rotationen in den Führungsetagen unseres Staates. Als im Mai ein Landsmann, der sich zum breiten Streifen eines Oberfeldwebels hochgedient hatte, am Anfang des vierten Dienstjahres stand und auf seine Demobilisierung wartete, wisserisch verkündete, „Unsere Leute werden in die Tschechoslowakei einmarschieren“, konnte ich bloß mit einem geschleppten „Na, na“ antworten, obwohl ich schon ahnte, daß man die aufmüpfigen tschechischen Eurokommunisten sowohl mit dem Zuckerbrot als auch mit der Peitsche schrecken würde, aber... so war halt der „Prager Frühling“, von der Kaserne aus gesehen.
Es gab Alarm, es begannen die scheinbar üblichen Sommerübungen, nach einer kleinen Anabasis kam ich vom Sanitätszug zu meiner Untereinheit, die mit „Partisanen“ zu Übungen eingezogenen Reservisten - erheblich verstärkt worden war, und vier, fünf Tage lang trieben wir uns in der Südostecke des Gebiets herum, überwiegend dünn besiedelt und landwirtschaftlich ungenutzt, wo die einst ordentlichen deutschen Bauernhäuschen, wie unsere Fertigbauten aus Livani, nur mit steilen Ziegeldächern, in Reih und Glied LPG -Dörfer bildeten, aber anstelle des saftigen Geruchs von Stallmist, der intensives Landwirtschaften bezeugen würde, lag der beißende Gestank von Erdölerzeugnissen in der Luft. Die betonierten Wege waren von Panzerketten zerfurcht und zermahlen, Staubschichten hüllten die Agitationsschautafeln ein, setzten sich in den Löchern fest.
Am frühen Sonntagabend überquerten wir die Grenze. Ziemlich verlockend, wenn sich durch einen lustigen Marsch die Möglichkeit eröffnet, die in der Schule eingebimsten Verse von Sudrabkalns2 zu bekräftigen, umso mehr, wenn dies nichts kostet, wenn für alles gesorgt ist. In unserer Kolonne zogen die Lkw in Zeltplanen verhülltes Luftabwehrgerät hinter sich her, das unter der örtlichen Bevölkerung ungeheuchelte Neugier hervorrief. Hier und da am Straßenrand riefen uns die Leute „zdrastvujke“ („Guten Tag“) zu, Kinder bombardierten uns mit Äpfeln, aber sie verstanden es um nichts in der Welt, den richtigen Augenblick zu erwischen, und uns gelang es nur einige Äpfel aufzufangen, der größte Teil wurde auf der Landstraße zermatscht. Wir fuhren schnell. Bei schönem Wetter ist eine Fahrt auf der Ladefläche der reinste Genuß. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, als wir durch Olsztyn fuhren, ich konnte mich also orientieren - der August hatte noch nicht begonnen, aber wir waren irgendwo bei den masurischen Seen angelangt. In Olsztyn waren eine Menge Leute auf den Straßen, viele Mädchen in weißen Jeans, mit blonden Hexenfrisuren, und ihre Stimmen schienen sanft zu gurren. Europa. Noch einige Tage später diente uns der Wegweiser nach Torun als nächster Anhaltspunkt. Hier schlugen wir in einem Kiefernwald unsere Zelte in einer geraden Reihe auf, und warteten, während wir Dienst schoben, auf die nächsten Befehle. Wir konnten uns allmählich mit der technischen Ausrüstung vertraut machen, die uns anvertraut worden war. Der Alarm war unerwartet gekommen. Nur hatten wir wenigstens Zeit genug, um uns die grundlegenden Fertigkeiten für die Bedienung anzueignen, die Flak auf alle vier Füße zu stellen, zu laden, das ausgewählte Ziel zu erfassen, und es nicht mehr loszulassen. Es kamen Gerüchte auf, wir müßten demnächst in Deutschland dienen. Hundert Jahre stehen uns bevor! - das bedeutete, daß der Rest der Dienstzeit ohne das normale, schon vertraut gewordene Soldatenleben irgendwo in der heimatlichen Sowjetunion vergehen würde, mit seinen kleinen Freuden und so weiter. Es kamen Gerüchte auf, wir würden in Polen bleiben. Auf der anderen Straßenseite arbeitete eine Ziegelbrennerei, dort konnten wir Kontakt aufnehmen zum zivilen Leben - anfangs waren die Ziegel feucht, bläulich, roh, im Halbdunkel schnitt man sie entzwei, nach dem Brennen wurden sie hart, rötlich, fertig zum Mauern. Das Leben hier schien kein Honigschlecken.
Das Lager mußte bewacht werden. In diesem Zusammenhang bekam ich zu Unrecht drei Tage Arrest aufgebrummt (ich will mich nicht rechtfertigen, bei einigen späteren Gelegenheiten kam ich völlig begründet in den Bau), und da es keine Zellen gab, mußte am Ende der Zeltreihe ein kleines Grab ausgehoben werden, 2*1*2 Meter, und da mußte ich hinein, und dadurch entstanden Ungelegenheiten für andere, es wurde nämlich ein besonderer Posten eingerichtet, unsere eigenen Jungs mußten mich bewachen. Ein Glück noch, daß uns Amnestie gewährt wurde.
Dann gab's noch ein Lager am Rande eines Roggenfeldes, wo die transportable Sauna und die Feldpost ihren Betrieb aufnahmen, dann umfuhren wir in aller Eile Bydgoszcz, Poznan, dann weiter und weiter in Richtung Westen, die Reihen waren heiß, die Äpfel flogen immer noch, Polen wurde immer gewohnter und grauer, und die ohne jegliche Formalitäten überquerte deutsche Grenze mit der sofort dahinter beginnenden riesig breiten Autobahn - bei Forst und den sorgfältig aufgeschichteten Reisighaufen in den anliegenden, gepflegten Wäldern, und die alle zwei Kilometer aufgestellten Notrufsäulen mit ihren luminiszierenden Farben, und die Schilder von Tourismusunternehmen wiesen uns den Weg. Ungefähr so. Nun begann schon klar zu werden, daß die Lage in der Tschechoslowakei ernst ist, daß das Land von inneren zwischennationalen Konflikten, von einer ökonomischen Krise, von der Verantwortungslosigkeit der Massenmedien gebeutelt wird, daß von außen jeden Augenblick ein Angriff der Bundeswehr zu erwarten ist. Dann bogen wir auf die Autobahn nach Dresden ab. Die bunten Menschenmengen in den deutschen Städten, die wir durchrasten, schienen von uns keine Notiz zu nehmen, die deutschen Frauen sahen zum größten Teil viel zu mollig aus, doch die Gesichter, die über den Losungen an den Brückengeländern auftauchten, beobachteten uns aufmerksam. Die Schlote der Chemiegiganten erinnerten an moderne Gotteshäuser. Stopp! Das habe ich mir erst jetzt ausgedacht, pardon - ich bitte, alle diese 1988 geschriebenen Zeilen als Kurzfassung der Auslandseindrücke eines 19jährigen Jugendlichen zu lesen. Aber ich wußte, daß wir uns in der Niederlausitz befanden, in einem von Sorben bewohnten Gebiet, das jahrhundertelang sein slawisches Blut im deutschen Körper bewahrt hat. Dann kurvten wir auf der Suche nach einem Lagerplatz über Umwege, es war klamm, dämmrig, wir richteten uns mitten in einem Wald ein, wurden mit verbesserten Essensrationen versorgt, chinesischem Schweinefleisch und deutschen Salamiwürsten, begannen schon untereinander den Bau einer neuen Kaserne zu erörtern, hier, aus dem Nichts, wie das zuvor nicht selten passiert war und als Norm galt. Ich bekam Briefe, die im Juli abgeschickt worden waren, und ich glaubte immer noch, ich beteilige mich an einer militärischen Demonstration, an mehr nicht. Aber es vergingen zwei Tage, und wir setzten uns eilig in Bewegung und schlossen uns dem Strom an, der sich unaufhörlich Richtung Süden ergoß, und das war schon der 22.August. Nachdem sie die erste Wegstrecke auf Transportfahrzeugen zurückgelegt hatten, entwickelten die Panzer nunmehr ein gehöriges Tempo, Einweiser in ihren beeindruckenden Uniformen gaben überall grünes Licht. Dresden blieb zurück in der schmalen Schlucht auf beiden Seiten des internationalen Highways, wie über einen Flaschenhals fuhren wir rasch darüber hinweg, am Straßenrand waren Panzer und Schützenpanzer zu sehen, die Jungs saßen und rauchten, während sie auf den technischen Hilfsdienst warteten. Irgendwo hier quetschte ein Geschützrohr einen Soldaten - ich kannte ihn bereits aus den Anfängen der Ausbildungszeit - an die Panzerung des vorausfahrenden Gefährts. Der Krieg wird für alles geradestehen - diesen Spruch hatten wir selber hinausposaunt. Im Erzgebirge, wo wir, anderthalb Kilometer über dem Meeresspiegel aufgestiegen, für einen kurzen Augenblick die Motoren abkühlen lassen konnten, sagte der Kommandeur mit tonloser, irgendwie gedämpfter Stimme: „Merkt euch das, ab heute ist für euch das Leben in Frieden vorbei“, - in der gewöhnlichen Baumwolluniform sah er überhaupt nicht nach einem professionellen Krieger aus.
In einer gemütlichen Kleinstadt fand eine Tanzveranstaltung statt, ich erkannte die Stimme von Presley wieder, ich erkannte die Atmosphäre wieder, ich wollte bleiben, wir fuhren kreuz und quer weiter. Eine ganze Zeitlang an der Grenze entlang, wie uns erklärt wurde. Ein kleines schwarzes Flüßchen markierte die Grenze, aber von dem Hügel auf der anderen Seite schimmerte etwas herüber, was wie unfreundliche Häuser, wie Aufschriften aussah. Leer war es. Es wurde gesagt, wir sollten kein Wasser aus dem Fluß trinken, es könnte vergiftet sein.
Wir überquerten die Grenze am Abend des 28.August. Im Laufe der letzten Woche waren Truppen der Staaten des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschiert, darunter aus der Sowjetunion. Der tschechoslowakische Verteidigungsminister M.Dzur hatte für die Streitkräfte seines Landes erhöhte Gefechtsbereitschaft angeordnet und diesen befohlen, auf ihren Posten zu bleiben. Der KP-Chef A. Dubcek hatte eine Anordnung erlassen, mit der den „örtlichen Parteigliederungen jegliche Zusammenarbeit mit den Besatzern verboten“ worden war. Der Vorsitzende der Nationalversammlung J. Smrkovsky hatte dasselbe für die lokalen Machtinstanzen angeordnet. Ich weiß nicht, wie sich dies alles zu Beginn der Woche ausgenommen hat, was sich in den übrigen Operationsgebieten abgespielt hat, dem gelegentlich gehörten „Jägerlatein“ glaube ich nicht besonders. Für meinen Teil kann ich getrost bezeugen, daß die Befehlshaber der Sowjetarmee 1968 dafür sorgten, daß sich die Beziehungen zu der einheimischen Bevölkerung nicht zuspitzten, die Soldaten waren diszipliniert, außerdem wurde ihnen streng auf die Finger geschaut, Kontakte waren auf einem Minimum zurückgeschraubt. In den Städten (in der Dunkelheit kamen wir durch Most und Heba) skandierten Menschenmengen antisowjetische Parolen. Es gab Aufschriften nach dem Muster „Lenin, prosnisj, Breznev suma sosol“ („Lenin, wach auf, Breschnew hat den Verstand verloren“) und „Za sorokpjatoje - spasibo, za seskdesjat vosmoje - pozor!“ („Wegen 1945 - danke, wegen 1968 - Schande!“). Die Verkehrsregler hatten es nicht leicht. Viele Wegweiser waren verschwunden, zeigten in die falsche Richtung, waren nicht beleuchtet. Wir saßen auf der Ladefläche, schauten in den Sternenhimmel, hingen jeder seinen eigenen Gedanken nach; nachts schliefen wir fest. Ich verspürte nicht die geringste Angst, vielleicht gerade deshalb, weil ich so jung war. Der Dienst nahm seinen Lauf, ließ auf welche Weise auch immer die Demobilisierung näherrücken.
Am nächsten Tag schlugen wir die Zelte auf. Ein umgepflügtes Feld trennte das Lager vom Schattenriß des Städtchens. Der Dienstplan war aus unserer Sicht ideal: die Hälfte der Zeit Wache schieben, die andere frei, und das zwei Wochen lang. Auf dem südlichen Posten, dort, wo unten im Tal Güterzüge schnaufend vorbeikrochen und dabei aus dem Schornstein der Lokomotive in langen Stößen rote Funkenstriche in die tintenblaue Dunkelheit jagten, konnte ich völlig ungestört saftige Birnen vom Zweig essen und mich bis in die Zehenspitzen hinein über die Einsamkeit freuen. Mir gefiel es, Wache zu schieben. Auch die Freizeit hatten wir fast ganz zu unserer Verfügung. Ja, es gab einen Augenblick, wo ein Plan zur Entwaffnung der örtlichen Untereinheit für den Fall erstellt wurde, daß sie ihre Läufe gegen uns richten sollte. Einer unserer Jungsoldaten entfernte bei der Rückkehr vom Posten vorschriftsmäßig das Magazin, entsicherte, richtete die automatische Waffe in die Luft, zog durch - der vor Angst bereits in den Lauf gedrückte Schuß ging los und läutete den Morgenappell für die tschechischen Soldaten ein, die auf dem Platz angetreten waren. Ja, wir hatten Schwierigkeiten mit dem Trinkwasser, Lebensmittel bekamen wir noch bis weit ins Jahr 1969 hinein aus Deutschland. Es gingen Gerüchte um, daß unweit von uns einzelne Soldaten getötet worden seien. Es wurde über einen fahnenflüchtigen Esten berichtet, der sich ohne Karten sehr präzise westwärts bewegte. Dann verstummten auch diese Nachrichten.
Im Kurort quartierten wir uns in der tschechischen Kaserne ein. Die Septembermitte erwartete uns mit spätsommerlichem Dunst, der auf der anderen Seite der Grenze über deutschem und polnischem Gebiet verflog. Man begann uns als billige Arbeitskräfte einzusetzen: auf den Feldern der Genossenschaften ernteten wir Kartoffeln und Zuckerrübven, für Bauarbeiten transportierten wir Steine und Rollsplit, der Verdienst ermöglichte es uns, Farben zu organisieren, zum Beispiel, oder roten Stoff für Spruchbänder, oder Butter, oder Kohlen zum Heizen. Während der Arbeit versorgten uns die Tschechen mit Essen, aber die Kommandeure verboten uns das Bier, soffen es selber weg und feierten. Dann wieder Wachdienst mit klarem Kopf. Von hier auch der bekannte Spruch „Do Moskvi 2000 kilometrov, a do smerki dva saga“ („Bis Moskau sind es 2.000 Kilometer, bis zum Tod zwei Schritte“). Ganz ernsthaft wurde davon geredet, daß ein Teil der Streitkräfte noch diesen Herbst in die Sowjetunion zurückkehren würde, auch für die „Partisanen“ hatte sich der große Spaziergang in die Länge gezogen. Jedesmal, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit durch die Städte X und Y fuhr, konnte ich die Giebel der auf den Rathausplatz gelangten zweihundert oder dreihundert Jahre alten Häuschen vergleichen, vergleichen mit dem früher mal gesehenen FilmWenn der Kater kommen wird3, vielleicht auch mit den frühen Streifen von M.Forman; auch Kafka hatte ich gelesen. Wir durften das tschechische Fernsehen sehen (um den Ereignissen vorzugreifen - bis zu den Eishockey -Weltmeisterschaften 1969, als die tschechische Auswahl beide Male über die Russen siegte, aber gegen die Schweden verlor und somit keine Goldmedaillen erhielt); dann war ich schon in dem Städtchen N. stationiert, nach den beiden Siegen, die die Tschechen errungen hatten, zog das ganze Städtchen mit Pauken, Tröten und Rasseln vor das Tor unserer Untereinheit, um dort zu feiern (es fehlte nicht viel, und es wäre zu einer Prügelei gekommen). Da sich die tschechischen Massenmedien sehr langsam umstellten, wurde uns das Fernsehen verboten. Im Sommer, als ich zweieinhalb Monate auf dem Truppenübungsplatz verbrachte, bekam ich die Möglichkeit, ab und zu ins Kino zu gehen. Hab‘ auch den Beatles-FilmHelp! gesehen und einen Streifen von Ingmar Bergmann, auch einen Horrorfilm.
Einen großen Alarm gab es noch ganz am Anfang Januar, als es schien, als ob wir drauf und dran seien, uns in Schützenpanzern nach Prag in Marsch zu setzen, um Demonstrationen unter Kontrolle zu bringen, bei denen einer der Hauptakteure J.Smrkovsky war.
Aufs Ganze gesehen, beruhigte sich das Volk in kurzer Zeit (ein großer Teil der Intellektuellen emigrierte, sie wurden ja auch hinreichend repressiert). Hier muß man berücksichtigen, daß die slowakische Sprache und Mentalität ziemlich verwandt ist mit der ukrainischen, den Tschechen jedoch imponiert der deutsche Sprung „Ordnung muß sein“ (im Original Deutsch). Solche, die man als „Kollaborateure“ bezeichnete, wurden immer mehr. Man suchte sich eine L. Breschnew genehme Sprache, die Folgen sind noch heute zu verspüren. Und allen ist bekannt, was 1979 in Afghanistan folgte. Es lohnt sich, daran zu erinnern, daß das zaristische Rußland dem Volk der Tschuktschen jahrelang nichts mit Waffengewalt anhaben konnte und sich damit begnügen mußte, auf dem Papier Forts zu unterhalten, daß jedoch ein Stammesältester der Tschuktschen jedes Mal, wenn er sich mit russischen Offizieren traf, sich danach zu erkundigen pflegte, „wie es denn dort meinem Bruder Nikolai geht“.
Ich möchte das realpolitische „Neue Denken“ begrüßen und bin mir zugleich bewußt, daß die Afghanistan-Veteranen in die Sowjetunion zurückgekehrt sind, aber wie sie sich fühlen - das ist vielerorts unbekannt. Armand Lanoux: „Für diejenigen, die im Krieg gekämpft haben, nimmt der Krieg nie ein Ende.“ Uldis Berzins schreibt ein Gedicht über Jan Palach4. Und er hat recht. Plumpe Gewalt vermag nichts gegen den Geist des Volkes auszurichten, jene Zeiten sind vorbei.
Wollen wir hoffen, daß sie nicht zurückkehren.
Aus dem Lettischen von Ojars J.Rozitis
Anmerkungen des Übersetzers:
1 Feldkurat Otto Katz: legendäre Gestalt aus dem Roman Jaroslav Haseks Die Abenteuer des braven Soldaten Schweijk.
2 Die Anspielung ist von hier aus nicht eindeutig zu entschlüsseln. Der lettische Lyriker Janis Sudrabkalns (1894 -1975) hat sich seit 1940 insbesondere als Vertreter einer linientreuen KP-Poesie einen Namen gemacht. In dem Gedicht an den „Sowjetmenschen“ (1946) heißt es etwa: „Immer größer wird die Familie, die sich um dich schart, / Flammend weist deine Fahne den Weg zu jenem Ort, / Wo in Kämpfen das Glück aller Menschen aufblühen wird, / Wo sich einst das Haus der freien Völker erheben wird„; bei anderen Gelegenheiten wird Lenin als Morgensonne für das lettische Volk gepriesen (1944) oder das russische Volk zum Heilsbringer für den Rest der Welt verklärt (1941).
3 Möglicherweise der Polanski-Film Wenn Katzelbach kommt.
4 Vor allem in sprachlicher Hinsicht hat der lettische Lyrker Uldis Baerzins (Jg.1944) die Rolle eines Wegbereiters für Juris Kunnoss gespielt. Aus Protest gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR beging der tschechoslowakische Student Jan Palach Anfang 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz Selbstmord.
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