: Aufbruchstimmung an der Humboldt-Universität
PsychologiestudentInnen aus Ost-Berlin sind zu Besuch an der FU und berichten über ihre Studienerfahrungen ■ I N T E R V I E W
In der letzten Woche folgten etwa 30 PsychologiestudentInnen der Humboldtuniversität einer Einladung des Instituts für Psychologie der Freien Universität und besuchten Seminare, Experimentalräume und Labors. Die taz sprach im Anschluß an ihren Besuch mit Kerstin und Gregor, die beide kurz vor dem Abschluß ihres Studiums der Klinischen Psychologie stehen, und Thomas, der im ersten Semester Arbeits- und Ingenieurpsychologie studiert, über ihre Eindrücke von der westlichen Art zu studieren.
taz: Was war denn hier an der FU euer prägnantester Eindruck?
Gregor: Allgemeiner Eindruck von der FU: riesengroß, ungeordnet, chaotisch im Gegensatz zu dem, was wir so kennen. Ich fühle mich hier in dem Gebäude ein bißchen beklemmt. Wir haben es da bei uns angenehmer.
Kerstin: Ich fand das hier sehr groß, die Weitläufigkeit und dieses ganze Bunte, zeitweise hatte ich den Eindruck gehabt von Bahnhof oder Durchgang. Was da so rumlungerte auf den Gängen! Bei uns in der Sektion, in der Oranienburgerstraße, ist alles ziemlich klein und läuft familiär ab, ist geordneter und mehr reglementiert.
Thomas: Mein prägnantester Eindruck hat schon vorige Woche in einer Einführungsveranstaltung für Psychologie stattgefunden. Der Gesamteindruck war absolutes Chaos, Widersprüche und Anarchie. Die Leute da vorne widersprachen sich ständig, keiner wußte Bescheid über Studienpläne, wie überhaupt was geregelt ist, und letzten Endes kommt man wahrscheinlich als Student hierher und muß sehen, wie man sich so gut und effektiv wie möglich ein Studium zusammenstellt. Das ist, glaube ich, für bestimmte Leute sehr gut, aber viele stehen der Sache auch ziemlich plan oder hilflos gegenüber. Während es bei uns eben das andere Extrem ist, daß es durchorganisiert ist und man nur noch sehr wenig Freiräume hat. Da sollte man sich in der Mitte treffen.
Sind denn Anwesenheitspflicht und vorgegebene Lehrveranstaltungen in der DDR die Regel?
Gregor: De jure existiert eine Anwesenheitspflicht. Für uns galt noch stark, daß ein bestimmtes Semester bestimmte Veranstaltungen zu besuchen hatte. Das wurde praktisch an unserem Institut sehr locker gehandhabt, an anderen allerdings streng. Bei den Medizinern gab es sogar Seminarausweise mit Paßbildern. Das ist jetzt alles im Umbruch.
Kerstin: Bei uns konnte man da schon eigenen Interessen nachgehen, aber gerade diese „roten Fächer“ - also diese Marxismus-Leninismus-Ausbildung - da mußte man hingehen. Das war bis jetzt Pflicht und gehörte wie Sprachen zu den Grundlagenfächern.
Wie kamen denn diese „roten Fächer“ bei den Studenten an?
Kerstin: Na ja, es hat mit dazu gehört, und man hat gemault und gemotzt. Es hing auch viel vom Dozenten ab, inwieweit der bereit war, selber zu diskutieren.
Thomas: Was den Grundlagenunterricht in marxistisch -leninistischer Philosophie betrifft, das wurde jetzt alles verworfen. Es gab vor zwei Wochen eine Direktorentscheidung, daß alles, was bisher an dieser Uni galt, jetzt hinfällig ist. Es existieren zur Zeit keine Studienpläne, keine Prüfungsordnungen, keine obligatorischen Fächer. Der Direktor hat vorige Woche einen 15-Punkte-Katalog vorgelegt, und die Sektionen sollen jetzt einzeln entscheiden, was für die Ausbildung in der jeweiligen Fachrichtung relevant ist und wie das aufgebaut wird.
Gibt er bei euch denn mittlerweile Entwicklungen in Richtung studentischer Mitbestimmung.
Gregor: Wir haben vorige Woche die FDJ bei uns an der Sektion aufgelöst und sind dabei, die Funktionen der FDJ zu übernehmen. Die Basisgruppen wählen Studenten in den Sektionsstudentenrat, und der entscheidet über Belange der Sektion. Der Sprecher des Sektionsstudentenrats wird von der Vollversammlung der Sektion gewählt. Dann gibt es Abgeordnete des Sektionsstudentenrates im Unistudentenrat.
Thomas: Wobei die, die in die nächst höhere Ebene kommen, aber wieder von der Basis bestätigt werden müssen, denn sonst hätten wir ja wieder einen demokratischen Zentralismus, und das wollen wir ja nicht.
Gregor: Wir haben eine andere Sicherung eingebaut: Wenn sich 30 Prozent der Wahlberechtigten finden, können sie diese Abstimmungen über Personalentscheidungen jederzeit anfechten und Neuwahlen herbeiführen.
Wie ist denn das Interesse der Studenten an hochschulpolitischen Fragen?
Gregor: Das Problem ist, daß zur Zeit in West-Berlin vieles interessanter ist als in Ost-Berlin, ansonsten ist die Bereitschaft mitzumachen groß. Aufbruchstimmung!
Thomas: Was die Leute hemmt, ist auch die Fülle von Informationen und Veranstaltungen. Einzelne wissen nicht mehr, wo zuerst hin und was tun. Die Leute müssen lernen, in einem Gremium mitzuarbeiten oder sich für eine Sache zu interessieren.
Gregor: Es geht auch darum, sich frei zu entscheiden. Das fällt mir selbst noch schwer.
Kerstin: Das Interesse bei den Leuten ist da, weil sie merken, jetzt können sie selber versuchen, das durchzusetzen, was sie immer wollten. Und daß Studieren denn auch bei uns wieder Spaß macht.
Habt ihre vom Studentenstreik im letzten Wintersemester hier in West-Berlin etwas mitbekommen?
Gregor: Ja, bei uns hing sogar ein Plakat, daß wir uns solidarisieren sollten, aber das ist dann untergegangen.
Was ist denn hier an der Westberliner Universität euer vorrangiges Interesse? Wollt ihr Seminare besuchen oder eher die Bibliotheken aufsuchen?
Kerstin: Ich müßte jetzt meine Diplomarbeit schreiben und denke, daß ich erst mal die Bibliotheken hier nutzen werde.
Thomas: Der Hauptgegenstand meines Interesses werden auch die Bibliotheken sein. Vielleicht ergibt sich im Laufe der Zeit etwas mit Vorlesungen und Seminaren, aber dadurch, daß wir in Ost-Berlin vom Studienplan schon ziemlich ausgelastet sind, wird es doch schwer werden, hier zusätzliche Lehrveranstaltungen zu besuchen.
Gregor: Ich wäre sehr daran interessiert, hier im Westen, also außerhalb der Uni, eine Psychotherapieausbildung zu machen. Wie das gehen wird bei den finanziellen Bedingungen, weiß ich nicht.
Habt ihr denn heute irgendwie Kontakte geknüpft oder Adressen getauscht?
Thomas: Nein. Es hat sich alles sehr schnell verteilt auf die einzelnen Seminare. Was fehlen würde, ist ein Ostbesuch, daß die Leute rüberkommen, weil das für die meisten wirklich völlig neues Terrain wäre.
Interview: thol
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