: Wahr ist, was der Computer gespeichert hat
Eine lauwarme Tagung der „Deutschen Vereinigung für Datenschutz“ / Die Datenschützer geben sich mit Schadensbegrenzung durch Verrechtlichung zufrieden Unterdessen schreitet die digitale Datenvernetzung bei Staat und Wirtschaft rasant voran / Schengener Abkommen bietet noch mehr Möglichkeiten für Sammelwut ■ Aus Bonn Martin Fischer
Was digitaler Fortschritt bedeutet, bekamen unlängst die Erpresser eines Berliner Kaufhauses zu spüren. Da die verabredete Geldübergabe mit anschließender Festnahme an Verständigungsproblemen deutscher Beamter scheiterte, die den Brüsseler Bahnhof Midi mit Bruxelles-Central verwechselten, meldeten sich die Unglücklichen in Berlin telefonisch. Dank der digitalen Vermittlungsstelle, die Verbindungsdaten für alle Fälle monatelang festhält, war die Telefonzelle, in der die Berliner Nummer gewählt wurde, schnell gefunden. Die Überprüfung der nächsten in der Telefonzelle gewählten Nummer wies den Weg in die Berliner Wohnung der ansonsten gar nicht unprofessionellen Täter.
Die rechtschaffene Bevölkerung wähnt sich in Sicherheit, vertraut dem Datenschutzgesetz und den zahlreichen Datenschutzbeauftragten. Obwohl die grenzenlose Rundumverdatung der Bundesdeutschen ständig weiter zunimmt, blieb Mitte November die Bonner Jahrestagung der „Deutschen Vereinigung für Datenschutz“ (DVD) eine intime Runde. Vier prominente Referenten - zwei Europaparlamentarier, der niederländische und der hessische Datenschutzbeauftragte blieben ebenfalls zu Hause.
Die totale Verdatung
ist längst Realität
Der Treppenwitz, daß gerade Bundesdeutsche von anderen Staaten Demokratisierung fordern, während im eigenen Land emsig an der Aushebelung demokratischer Minimalstandards gearbeitet wird, hat Hochkonjunktur. Die Kontrolle der Kontrolleure überlassen die BürgerInnen in der Bundesrepublik, denen republikanisch-widerständisches Handeln wesensfremd zu sein scheint, wie gehabt staatlichen Einrichtungen. Seit dem Volkszählungsurteil stößt auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur mehr auf akademisches Interesse.
Die totale Verdatung der bundesdeutschen Bevölkerung ist längst Realität. Doch das Netz wird täglich enger: Digitale Telefonvermittlungsstellen, Geldautomaten, elektronische Zeitkarten am Arbeitsplatz und ab Januar 1990 maschinenlesbare Sozialversicherungsausweise. Unleugbar bequem, klein und sauber, bereiten die vielen neuen Plastikkarten häufig eher Lust als Frust. Daß dabei die rasanten Entwicklungen von Mikroelektronik und Telematik den Begehrlichkeiten von Staat und Wirtschaft immer umfangreichere automatische Zugriffsmöglichkeiten auf unsere Datenspuren bieten, geht im allgemeinen Trubel unter.
Gegenüber den riesigen Datensammlungen an Orten, von deren Existenz kaum noch jemand weiß, hat das eigene Gedächtnis jegliche Chance verloren. Wahr ist, was auf dem Computerausdruck steht, auch wenn wir nicht nachvollziehen können, wie die einzelnen Mosaiksteine unserer Biographie in die Maschine gekommen sind. Natürlich ist noch immer von Datenschutz die Rede, vor allem dann, wenn die Herstellung von Öffentlichkeit verhindert werden soll.
Wer auf Privatsphäre pocht, macht sich verdächtig
Die deutsche Staatsbesoffenheit ist obszön. Unschuldsvermutungen hin, Grundgesetz her, weil sie nichts zu verbergen haben, lassen sich Bürgerinnen und Bürger überwachen. Wer die Unversehrtheit seiner Privatsphäre einfordert, ist TerroristIn, AusländerIn, homosexuell, auf jeden Fall verdächtig.
Seit Jahren werden in München Tausende Menschen, die bei Siemens an der Entwicklung von Hard- und Software für das Breitbandnetz ISDN der Bundespost arbeiten, im Auftrag der Bundespost vom Verfassungsschutz überprüft. Die Einwilligung der Betroffenen wurde nicht eingeholt. Daß auch nur eine Person unter diesen Umständen die Mitarbeit verweigert hat, ist nicht bekannt.
Daß solcher Widerstand nach geltendem Mitbestimmungsrecht möglich wäre, stieß ausgerechnet in jenem erlesenen Kreis auf ungläubiges Staunen, der es sich vor zwölf Jahren zur Aufgabe gemacht hat, „durch Aufklärung und Beratung in allen mit Datenschutz, Datenverarbeitung und Datensicherung im Zusammenhang stehenden Fragen“ die Interessen von Bürgerinnen und Bürger wahrzunehmen. So mußte sich die „Deutsche Vereinigung für Datenschutz“ auf ihrer diesjährigen Tagung von einem Vertreter der niederländischen „Stiftung Wachsamkeit Personenregistrierung“ sagen lassen, daß der gesetzlich verordnete Datenschutz nur ein Mittel unter vielen sei, die nötig wären, um sich der europa- und weltweiten Tendenz zur Herstellung des gläsernen Menschen nicht gänzlich erfolglos zu widersetzen.
Vorbildliche Arbeit
in den Niederlanden
Die deutschen Datenschützer geben sich seit langem mit einer Schadensbegrenzung durch Verrechtlichung zufrieden und nehmen den immer größer werdenden Abstand zwischen den Menschen und ihren Daten zum Vorwand, um ihr fehlendes Vertrauen in aktive Bürgerkontrolle zu legitimieren.
Die niederländische Schwesterorganisation hingegen setzt auf teilnehmende Kontrolle, arbeitet mit den Medien und mobilisiert den Widerstand der Bevölkerung. Mit Erfolg: In einer niederländischen Meinungsumfrage rangiert die Angst vor Datenmißbrauch nach Umweltzerstörung und Arbeitslosigkeit an dritter Stelle in der Liste dringlicher Probleme. Dennoch ist auch in den Niederlanden das konkrete Wissen um das Ausmaß der digitalen Erfassung eher gering. Mehr als fünfzig Prozent der Befragten gaben an, nicht zu wissen, in wievielen Dateien sich ihre persönlichen Daten bereits befinden. Nur zehn Prozent nannten den niederländischen Durchschnittswert von einhundert und mehr Dateien.
Wie berechtigt die geäußerten Ängste sind, zeigen die anstehenden Schritte im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt. Am 15.Dezember soll ein unter strenger Geheimhaltung entstandener Vertragsentwurf der nach dem bayerischen Schengen - Ort des ersten Treffens - benannten Schengen-Staaten Benelux, Frankreich und Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet werden. Er nimmt die durch den Wegfall der Binnengrenzen der Vertragsstaaten ab Januar 1990 angeblich entstehenden Sicherheitsdefizite zum Vorwand, um supranationale Polizei- und Geheimdienstverflechtungen zu legalisieren.
Zunehmend Vorverlagerung von Speichertätigkeiten
Mit der Etablierung des Schengen-Informations-Systems SIS in der Datenschutzoase Belgien wird das im Grundgesetz garantierte Recht auf Asyl mit einem effizienten On-line -Datenbanksystem unterlaufen. Wer in einem der Vertragsstaaten eine Ablehnung des Asylantrags erhält, kann dank Schengener Abkommen und High-Tech in einem anderen Schengen-Staat keinen Antrag mehr stellen. „Politisch motivierte StraftäterInnen“, die noch nicht unter das ohnehin recht weiträumige Terrorismusverständnis des Staatsschutzes fallen, verlieren das bislang geltende Recht auf Nichtauslieferung. Der Export bundesdeutscher Überwachungsqualitäten, die Amtshilfe zwischen den Geheimdiensten und der Datenaustausch ohne Zweckbindung zur vorbeugenden „Verbrechensbekämpfung“ führt zu einer weiteren Vorverlagerung der Ermittlungs- und Speichertätigkeiten.
Der Trend zur Vorverlagerung ist in allen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen, in denen die Bedeutung der automatischen Datenverarbeitung ständig wächst. Entsprechend ändern sich auch die Kriterien der Datensammlungen. Im Sicherheitsbereich tritt anstelle der „Tatrelevanz“ die „Verdachtsrelevanz“, im Gesundheitssektor wird die „Symptomrelevanz“ von der „Dispositionsrelevanz“ abgelöst. Auch in der Arbeitswelt ist Prävention der große Hit.
Damit die kostenintensive digitale Sammelwut auch richtig Sinn macht, ist eine Verknüpfung unterschiedlicher Dateien unerläßlich. In Frankfurt unterhält der Chemiemulti Hoechst AG eine On-line-Verbindung zur AOK. In Augsburg hat die AOK direkten Zugriff auf Dateien von Sozialeinrichtungen in Rom. Mit der Rentenreform wurde am 9.November im Deutschen Bundestag unter der Kapitelüberschrift „Datenschutz“ der wechselseitige unbeschränkte On-line-Zugriff der Sozial- und Rentenversicherungsträger legalisiert.
Was macht die Deutsche Vereinigung für Datenschutz? Im Arbeitskreis „Informationelle Voraussetzungen politischer Herrschaft“ schwärmt ein Vorstandsmitglied von technischen Verbesserungen im Bereich der Datensicherheit, lobt die Möglichkeiten zur Verschlüsselung im Datenverkehr und preist die wechselseitige Identifikationsmöglichkeiten der beim Datentransfer beteiligten Geräte.
Am Ende beschließt das Plenum der Daten-Bürgerinitiative, bürgerfreundlicher zu werden.
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