: Die hauchdünne Betondecke zwischen den Kulturen
■ Paul Geiersbach: „Warten bis die Züge wieder fahren - Ein Türkenghetto in Deutschland“
Von „soziologischem und sozialpsychologischem Erkenntnisinteresse“ (S. 414) angetrieben, mietet Paul Geiersbach sich in einer der ärmsten türkischen Wohnsiedlungen des Ruhrgebiets ein, allein, ohne seine Familie. Er will ein halbes Jahr lang dort in engstem Kontakt mit den Bewohnern leben und sagt ihnen von vornherein ganz offen, daß er vorhat, ein Buch über seine Erfahrungen zu schreiben. Er spricht türkisch und findet schnell, wenn auch beileibe nicht mühelos Zugang und Vertrauen. Der 16jährige Sinan, der sich immer wieder als Informationsquelle und Brücke zu einzelnen Gruppen der Türkenkolonie erweisen wird, versucht, Kurdenkinder von Geiersbach fernzuhalten. “'Sind Kinder nicht‘, so gab ich Sinan zu bedenken, 'nach islamischem Verständnis so unschuldig wie Engel?‘ - 'Ja, jetzt vielleicht noch, aber die werden ja auch mal groß, und dann sind sie gegen uns'“ (S.25). Kurden werden als „Ungläubige“ und „Kommunisten“ gemieden, und Geiersbach muß hartnäckig und zäh sein, wenn er „mit allen Leuten in der Kolonie sprechen“ will und es ablehnt, sich an der Diskriminierung der kurdischen Minderheit zu beteiligen (S.92, S.402). Weil er sich allen hilfreich zeigt („mit amtlichen Schreiben, deren Inhalt ihnen unverständlich ist, mit Formularen, die ich ihnen ausfüllen helfen soll, mit Briefen... an die Rentenkasse, den Arbeitgeber..., wo ich doch ein Auto habe... kutschieren... (S.70) wird es hingenommen, daß er regelmäßig „meinen kurdischen Heidenkindern“ (S.79) Hausaufgabenhilfe erteilt. Als er sich aber daranmacht, diesen Dienst auszuweiten zu einem regelrechten „Schülerladen“ für alle, die Hausaufgabenhilfe brauchen und haben möchten - und das sind alle Schüler der Siedlung -, da scheitert er sowohl an den deutschen Institutionen und Zuständigkeiten als auch an den türkischen Gegebenheiten. Vom Hoca, dem „ersten Vorbeter (Imam) der hiesigen Moschee und damit höchsten islamischen Würdenträger der Kolonie“ (S.68) wird praktisch Unmögliches gewünscht: nämlich je getrennte Hilfe für Muslime und Kurden, Jungen und Mädchen, Ältere und Jüngere. Was im kleinen, privasten Rahmen durch das Vertrauen zu Geiersbach gerne gesehen, ja nach einiger Zeit erbeten war, soll im Größeren auch nur unter seiner Führung weiterlaufen, und „wer außer dir noch die Kinder unterrichtet, da rate ich dir, nimm keine Ungläubigen oder Kommunisten!“ so der Hoca (S.404). Zu diesem hatte sich, vermittelt durch den jugendlichen Freund Sinan, ein regelmäßiges Besuchsverhältnis herausgebildet. Geiersbach wurde sogar in den Koranunterricht mitgenommen und auch in die Moschee. Er hat viel Einblick bekommen in das Glaubens- und Gemeindeleben der Siedlung. Das Kapitel „Meine neue Moschee für den Hoca“ schildert die Kämpfe und Entwicklungen zwischen den gemäßigten und den rechten islamischen Gruppen, welch letztere in der Türkei zur Zeit verboten sind, bei uns aber aufgrund der verfassungsmäßigen Religionsfreiheit sehr rege sein können.
Geiersbach verlangt weder von sich noch vom Leser, daß ihm alle seine Nachbarn „gleich auch sympathisch werden; aber er kann ihnen unverkrampfter, angstfreier, aggressionsloser, toleranter begegnen“, das ist die Hoffnung des Autors, nachdem er sich bemüht hat, die ungefähr 1.800 Einwohner des Türkenviertels „zu entteufeln oder zu entdämonisieren“ (S.415). Die wären eher „mit den gut-katholischen Gemeindemitgliedern einer dörflichen Pfarrei im Bayerischen Wald“ zu vergleichen, als daß sie zu den fanatisierten Anhängern Gaddafis oder Khomeinis gehörten.
Viel Zuneigung haben sich die türkischen Kinder in der Schule erworben. Geiersbach zitiert zum Beispiel eine Lehrerin so: „Ich unterrichte viel lieber türkische als deutsche Schüler. Was mir da von meinen türkischen Schülern manchmal an Wärme und persönlicher Anteilnahme entgegenkommt, kenne ich doch von deutschen Schülern gar nicht..., und die Tür halten sie mir auf... Kavaliere. Als Lehrer gilt man bei denen noch was, da macht einem der Beruf auch wieder Spaß. Und lernmotiviert sind sie auch... Klar, Disziplinschwierigkeiten habe ich mit denen auch, vor allen Dingen, was da an Aggression untereinander so läuft, aber daß die mal sagen: 'Mach ich nicht‘, 'Leck mich am Arsch!‘ oder 'fuck you‘, wie ich das von deutschen Schülern immer häufiger als Lehrerin in höheren Klassen zu hören kriege, das kenne ich bei türkischen Schülern nicht“ (S. 363 f).
Im Kapitel „Bei der Moschee am liebsten mal die Scheiben einschlagen - Pogromstimmung bei den Deutschen im Haus“ erfährt der Leser, daß der Gebetsraum der Moschee, untergebracht in einem ehemaligen Lebensmittelgeschäft, „nur durch eine hauchdünne Betondecke... getrennt“ (S.332) ist von den darüberliegenden Wohn- und Schlafräumen deutscher Mieter. „Und was die Olowskis mir von ihrem Leid erzählten, das ihnen täglich durch den Moscheebetrieb zugefügt werde, überzeugte mich ein Stück weit auch“ - Referentin gesteht, den Gefühlen dieser Mieter mehr als nur ein Stück weit folgen zu können. Denn die - in aller Deftigkeit zitierten Beschreibungen der O's werden untermauert durch Geiersbachs eigene Beobachtungen (Lautsprecher unsinnig übersteuert, Betrieb um das Gebäude vor und nach den Gottesdiensten). Die Spannungen, die dort unter anderem durch, sagen wir, mangelnde Umsicht der Vermieterfirma („Hauptsache, die Miete kommt rüber“ auf S.333 Herr O.) entstanden sind, erscheinen vermeidbar. Sie wurden durch das Dazwischengehen Geiersbachs auch gemildert - trotz zunächst auch von türkischer Seite angeschlagener, unangenehm großsprecheriger Töne (S.334 f). Wie aber wäre zu schlichten, was im Kapitel „Dies- und jenseits des Stacheldrahtzaunes zwischen Deutschland und der Türkei“ geschildert wird?: Hier „manikürter Rasen, steingefaßte, akkurat rechtwinklig zueinander verlaufende Gartenwege... natürlich auch ein Sommersitz... mit Hollywoodschaukel. Und jenseits des Zaunes: Öde!... Hinterhofareal. Ja, selbst Gras und Wegerich gedeihen hier nur im Schutz von Mauervorsprüngen oder in Ecken und Winkeln. Ansonsten... nur Schotter, Schlacke... und verstreut darauf, was einem so im täglichen Leben aus dem Fenster oder aus der Hand fällt oder was vom Auto übrigbleibt... 'Mann, die siehst du doch, ob du willst oder nicht. Und du siehst den Hinterhof, wo sie alles kaputtgemacht haben, und die Häuser, wo sie mit ihren vielen Blagen und Ratten hausen'“, so äußert sich ein „Kneipenbruder“ (S.256). „Und wer sie nicht mehr sieht, die Türken von drüben, der hört und riecht sie noch, und das gerade am intensivsten, wenn man des schönen Wetters wegen mal im Gärtchen sitzen und sich entspannen möchte: das orientalische Musikgedudel, aus zehn oder zwanzig Fenstern gleichzeitig... dann der Essensgeruch... vermischt mit dem Staub, den die Kinder beim Herumtoben oder die Jugendlichen mit dem Auto ihres Vaters... hochwirbeln“ (S.257). „Ja, man fühlt sich hier wie in 'ne Burg oder was belagert von denen“ (S.333, Frau O.).
„Wissen Sie, die Türken, das habe ich schon gemerkt - in de‘ Kantine... arbeite ich mit türkischen Frauen zusammen die sind bestimmt nicht schlechtere Menschen wie wir, vielleicht sogar bessere, aber ihre Arta ist nicht wie unsere...“ (S.333); das sagt dieselbe Frau O., die sich belagert fühlt. Man hört die Möglichkeit und die Bereitschaft zu Sympathie, zum Geltenlassen. Aber Hilfestellungen sind nötig, Dolmetscherdienste, wie Paul Geiersbach sie leistet, der sich ja auch die Mühe gemacht hat, die türkische Sprache zu erlernen.
Dann ist da aber noch etwas: „Was sie uns da im Fernsehen immer an Türken zeigen, das sind Gebildete... Soll'n se doch mal herkommen, die Herren vom Fernsehen, ja, und sich den Zirkus hier anschauen...“ (eine deutsche Sekretärin, die in der Kolonie wohnt, S.330).
Multikulturell eingestellt und tolerant sein geht leicht, wenn man jung und neugierig ist - oder in einigermaßen großräumig angeordneten, bürgerlichen Wohnvierteln. Wir netten Leser der 'Zeit‘ beispielsweise werden uns immer mit einem Nachbarn aus der Türkei oder sonstwoher verständigen können und uns auch gerne für ihn interessieren. Er wäre nämlich nicht unser Nachbar, wenn er nicht mindestens gut Englisch spräche und seinen Mülleimer so benutzte wie wir. Denn das unter anderem bedeutet ja „multikulturell“: unterschiedliches Verhältnis zu Sauberkeit, Lärm, Räumlichkeit, Tageszeit. Wenn sich diese Unterschiedlichkeiten auf nur wenigen Quadratmetern mit vielen Personen manifestieren, dann ist man unmittelbar betroffen, und das fühlt sich ganz anders an, als wenn man abends den Stadtteil wechseln kann oder von den oben geschilderten Zuständen allenfalls mal liest. Oder wenn man, wie Paul Geiersbach es getan hat, auf Zeit „als Intellektueller unter Arbeitern“ (S.412) lebt, unter ausländischen, um anschließend darüber zu schreiben; dann ist ja das Wohnen mit einem Ziel verbunden. Für Leute, die nur einfach da wohnen wollen und nichts sonst, und die auch keine andere Bleibe haben, für die ist es anders. Geiersbach weiß das sicher.
Elisabeth Blatt
Paul Geiersbach: Warten bis die Züge wieder fahren - ein Türkenghetto in Deutschland. Mink Verlag, 415 Seiten, 25 DM. Mit einem Vorwort von Günter Walraff
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