: POESIE UND MYTHEN
■ Versuche, sich Indien lesend zu nähern
Indien zieht die Sehnsüchte vieler Europäer auf sich, doch ist das Land mit europäischen Kategorien schwer zu verstehen. Gewaltlosigkeit, tiefe Religiosität, Spiritualismus, Selbstfindung und Introspektion sind einige der Vorstellungen, die häufig mit Indien verbunden werden. Sie gehen zurück auf europäische Indienwissenschaftler, die jahrtausendealte Sanskrittexte interpretierten, die von einer schon damals herrschenden Priesterkaste verfaßt worden waren, ohne daß diese Gelehrten Indien jemals mit eigenen Augen gesehen haben. Nüchtern betrachtet ist der Enthusiasmus vieler Europäer für das Indisch-Exotische wenig mehr als eine Projektion mythengesättigter Vorstellungen auf eine Gesellschaft, die man nicht oder fast nicht kennt.
Schon die Begrifflichkeit stimmt selten: „Indien“ ist eine Kreation der Engländer gewesen, die verwaltungstechnischen Zwecken diente. Heute wie vor einhundert Jahren ist Indien ein Vielvölkerstaat von kontinentalen Dimensionen, fragmentiert in die unterschiedlichsten Völker, Stämme, Kasten, Religionen, Sekten. Noch heute verstehen sich Inder viel eher als Tamilen, Bengalis, Punjabis oder Telugas; die einzige Sprache, die all diese Nationen miteinander verbindet, ist die Sprache der ehemaligen Kolonialherren.
Gewaltlosigkeit? Indien ist voller Gewalt. Als die Briten 1947 Indien in die Unabhängigkeit entließen, kam es zu unvorstellbaren Brutalitäten und Orgien von Gewalt zwischen Moslems und Hindus, Ströme von Blut flossen. Immer wieder münden die Separatismusbestrebungen einzelner Volks- und Religionsgruppen in Explosionen mörderischer Gewalt: Die Tamilen um Madras verlangen mehr Autonomie, der Dauerkonflikt zwischen den circa 600 Millionen Hindus und den 70 Millionen Moslems führt periodisch zu Mord und Totschlag, der Bürgerkrieg im Punjab wird durch den Terrorismus der Sikhs geschürt und durch den staatlichen Terror der Zentralregierung am Leben gehalten. Gewaltlosigkeit ist in der indischen Politik nicht mehr als ein künstliches und vorwiegend opportunistisches Lippenbekenntnis. Obwohl das riesige Indien aufgrund seiner geographischen Lage von keinem seiner Nachbarn ernsthaft bedroht ist, verfügt es über die drittgrößte Armee der Welt und führte im Laufe seiner vierzigjährigen Existenz als unabhängiger Staat drei Kriege.
Religion und Gesellschaft sind in Indien untrennbar miteinander verwoben. Diese Feststellung ist durchaus soziologisch gemeint: Die religiösen Normen bestimmen das Leben des einzelnen bis in die letzten Verästelungen, und die Gesellschaftsstruktur mit ihrer Kastenformation ist religiös determiniert. Die Feststellung ist nicht spirituell gemeint, denn daß Hindus eine große Bewunderung für Philosophie (im Sinne der europäischen Vorstellung eines Strebens nach Wahrheit) hegten und Philosophen verehrten, ist wiederum ein europäisches Mißverständnis. In der ausgeprägt materialistischen Hindugesellschaft werden Sadhus verehrt, weil sie über okkulte Kräfte verfügen; nichts fürchtet der Hindu mehr als Einsamkeit und Kontemplation, er zieht den Marktplatz vor, endlos redend.
Wie läßt sich ein Zugang zu einem Verständnis Indiens aus europäischer Perspektive finden? Wie läßt sich Indien verstehen? Zwei Bücher seien hier vorgestellt, die zum Verstehen des Landes beitragen wollen. Eitelkeit eines Journalisten
Das Buch von Hans Walter Berg Indien - Traum und Wirklichkeit ist weniger analytisch als subjektiv und impressionistisch. Berg ist ein guter Beobachter und seine gelungenen Porträtskizzen von Personen sind einfühlsam und treffsicher. Nach fünfunddreißigjähriger Tätigkeit als Auslandskorrespondent in Indien ist Berg sicherlich ein hervorragender Kenner des Landes. Indien-Interessierte haben mit Genuß seine präzisen Fernseh-Features gesehen, doch im Vergleich dazu fällt das Buch ab. Zuviel Lokalkolorit und zuviel unterhaltsames Geplauder überwuchern die Darstellung. Geschwätzig teilt uns der Autor zum Beispiel eine lange Liste von Staatsoberhäuptern mit, die zu Indira Gandhis Todesfeierlichkeiten kamen. Was soll's? Das ganze Buch ist durchtränkt von der Eitelkeit des „arrivierten Journalisten“ (Berg über Berg), der bei den Großen und Mächtigen Indiens ein- und ausging. Wer gerne Berichte über britische Herzoginnen und deren Kinder oder über Frau Onassis liest, wird sicher von Bergs name dropping beeindruckt sein und mit Genuß die Fotos anschauen, auf denen er mit der Königin von XY oder dem Maharadscha von Z posiert.
Daneben enthält das Buch einige erschreckende Formulierungen, so wenn Moslems beständig als „Mohammedaner“ tituliert werden (hat sich der Indien-Kenner Berg niemals mit indischen Moslems unterhalten?) oder wenn die Religion der Hindus in europäisch-arroganter Manier als „Aberglaube“ bezeichnet wird (man darf annehmen, daß Berg den europäischen Mythenzauber eines dreigeteilten Gottes, der starb und von den Toten wiederauferstand, der alle möglichen und unmöglichen Wunder in seiner Zeit als Mensch vollbrachte, wohl kaum mit der gleichen Beifügung belegen würde). Sensibilität eines DDRlers
Richard Christ (Mein Indien) versucht unprätentiös und bescheiden, Indien ohne europäische Brille zu sehen. Er ist vorsichtig genug, seine Impressionen als vorläufig, partiell und wandelbar zu betrachten. Er ist ein genauer Beobachter, der Indiens Gegenwart immer vor dem Hintergrund der jahrtausendealten Vergangenheit zu begreifen sucht. Statt definitive Antworten zu geben, stellt er viele Fragen auch, weil ihm vieles frag-würdig erscheint. Viele seiner Beobachtungen enden in kleinen Nach-Fragen, die in ihrer Skepsis und Nüchternheit Problematisches ins Licht rücken. (Etwa in der Art Brechts, der einen lesenden Arbeiter fragen ließ, ob Caesar, als er die Gallier schlug, nicht wenigstens einen Koch bei sich hatte.) So bilden Beobachtungen immer den Ausgangspunkt und dann wieder den Endpunkt von Christs Überlegungen. Natürlich hat er die alten Texte (Veden, Baghavadgita) gelesen ebenso wie neuere Selbstzeugnisse indischen Selbstverständnisses (zum Beispiel Gandhis und Nehrus Autobiographien), doch zuallererst versucht er Indien zu erschmecken, zu erfühlen und - vor allem - zu sehen. Diese sinnlichen Eindrücke bewirken, daß auch Christ sich der Faszination Indiens nur schwer entziehen kann, doch läßt er sich nicht - wie viele andere Europäer - die Sinne benebeln.
Das mag sicher auch mit seinem geistigen und sozialen Hintergrund als DDR-Bürger zusammenhängen, denn im anderen deutschen Staat, in dem Christ lebt, haben religiöse Fragen keinerlei intellektuellen Kurswert. Und vermutlich ist DDR -Bürgern sowohl theoretisch wie praktisch die allzu häufig unüberbrückbare Kluft zwischen Ideologien und den ihnen zugehörigen gesellschaftlichen Realitäten bewußter als uns.
So ist für Christ der Hinduismus weniger eine Religion als vielmehr eine Lebensform - eine durchaus zutreffende, doch gleichwohl selten anzutreffende Beurteilung. Genauer wäre wohl Lebensformen, denn gerade indem er die immense Vielfalt des Vielvölker-, Vielsprachen- und Vielregionenstaats Indien darstellt, macht der Autor auch deutlich, wie fragmentiert das Land ist. Doch was verbindet angesichts dieser Vielfalt die unterschiedlichen Indien, die Christ uns vorführt? „Die Mythen verbinden das Land, und wenn es ein Indien gibt, trotz vieler Nationalitäten, Religionen, Rassen, Kasten, so sind es die alten Geschichten, so ist Poesie nicht unbeteiligt daran.“
Auch Christs Buch ist impressionistisch, und schon der Titel macht hinreichend deutlich, daß sich hier ein Land in einem Temperament spiegelt. Das Buch, das sich gleichermaßen durch literarische Qualität wie Sensibilität des Autors auszeichnet, macht besser als jede Analyse deutlich, wie verhaltensgeprägt und mächtig die überlieferten Traditionen Indiens nach wie vor sind und wie Vergangenheit in der gelebten Kultur immer präsent ist. So gut haben das bisher wenige Indienbücher vermocht.
Gernot Volger
Hans Walter Berg: Indien - Traum und Wirklichkeit. Deutscher Taschenbuch Verlag, München. 309 Seiten, DM 12,80.
Richard Christ: Mein Indien. Aufbau-Verlag, Berlin (DDR). 567 Seiten, 14,50 Mark.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen