piwik no script img

Bayern kettet sich an, Polen wird abgehängt

Von Wendeopfern, beschränkten GIs, eisernen Adlern und großdeutschem Gestrüpp in Kanzlers Mund  ■  E R E I G N I S D D R

Die für morgen, 12 Uhr, geplante Menschenkette quer durch deutsch-demokratisches Land soll einen bundesdeutschen Fortsatz erhalten: Das Neue Forum Eisfeld hat aufgerufen, den Abschnitt Greifswald - Dresden - Eisenach - Erfurt über den Grenzübergang Eisfeld-Rottenbach bis ins bayerische Coburg fortzusetzen.

Die Maßnahmen gegen den Ausverkauf subventionierter Waren in DDR-Läden haben den Anteil ausländischer Kunden von 80 auf 20 Prozent gesenkt. Auch konsumfreudige GIs seien durch die bloße Präsenz der Zöllner eingeschüchtert. Gegen eine antipolnische Kampagne im Gefolge der Kaufbeschränkungen hat die Regierung in Warschau offiziell protestiert. Polen werde in der DDR zunehmend der Zutritt in Kaufhäuser und Gaststätten verwehrt.

„Die Suche nach äußeren Feinden hat dem Realsozialismus schon immer gute Dienste geleistet“, schreibt die Regierungszeitung 'Rzerzpospolita‘.

Der Eiserne Vorhang ist zum Sieb geworden. Alle fünf bis 20 Kilometer gibt es einen Grenzübergang, insgesamt 98 Stück. Weitere Passagen soll es am Brandenburger Tor geben. Das Tor selbst wird, so Ostberlins Bürgermeister, zur Besichtigung freigegeben. Selbst das Eiserne Kreuz und der preußische Adler, die an den Sieg über Napoleon erinnern sollen, werden in den nächsten Tagen wieder anmontiert - auch Wenden lassen sich übertreiben.

Schwierig, schwierig, eine ganze Gesellschaft neu zu entwerfen: Kaum waren die neuen Lehrpläne in Umlauf, wurden sie auf der gestrigen Volkskammersitzung nach kurzer, aber heftiger Debatte wieder zurückgezogen. Im Januar wird's einen zweiten Versuch geben...

„OdA“ - eine neue, heeresinterne Rangbezeichnung: „Opfer der Abrüstung“. Frühpensionierte Offiziere bejammern derart ihre tragische Existenz. Opfer der Wende sind dagegen jene 12.500 NVA-Soldaten, die ab Februar in der Industrie ackern dürfen. Weitere 3.000 Mann werden später zur Post, auf den Bau und in die Krankenhäuser abkommandiert.

Bundesdeutsche Ärzte können ab sofort zu DDR-Bedingungen in realsozialistischen Krankenhäusern operieren. Das Salär wird in Ost, die Sozialversicherung dank Bonner Hilfe in West gezahlt.

Kohls Zehnkampfleistung zur Wiedervereinigung ist gestern vom 'Neuen Deutschland‘ ('ND‘) veröffentlicht worden. Das 'ND‘ verweist auf die chauvinistischen und großdeutschen Vorstellungen, die vom Kanzler-Plan animiert werden: Die Eigenständigkeit der DDR zu bewahren, bedeute, sich auf die antifaschistischen und humanen Ideale zu besinnen, von denen die DDR einst ausgegangen sei. Auch die Zeitungen der NDPD und der Bauernpartei sehen „konstruktive Ansätze“ von „großdeutschem Gestrüpp“ überwuchert.

Der WDR übernimmt im Dezember die „Aktuelle Kamera“ der DDR, das ZDF lädt die geläuterten Kollegen zur Teilnahme an dem deutschsprachigen TV-Kulturkanal ein.

Stasi-Schilder zu Buchwaren schmieden Greifswalder Studenten: Ein spendiertes gußeisernes Schild der örtlichen Stasi-Dienststelle soll versteigert werden, um das Startkapital für eine subversive Bibliothek zu erbringen. Bücher von Walter Janka, Bahro und anderen sollen an DDR -Schulen verteilt werden. Gebote an: Lüning, Gervinusstr.17, 1 Berlin 12. Wer gebrauchte West-Öko-Zeitschriften umrubeln möchte, wähle 07945-719 (Förderverein DDR-Selbsthilfe).

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen