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„Ein finsteres halbes Jahr“

Ende Oktober resümierte der RAF-Gefangene Helmut Pohl den Hungerstreik / Zusammenhang seines Briefs mit dem Herrhausen-Attentat ist umstritten  ■ D O K U M E N T A T I O N

Nach dem Mordanschlag auf Alfred Herrhausen wurde in den Medien ein Schreiben des Gefangenen aus der RAF, Helmut Pohl, vorschnell als Aufforderung für das Attentat interpretiert. 'Bild‘: „RAF-Chef Pohl hat es angekündigt.“ Inzwischen besteht kein Zweifel mehr, daß die Vorbereitungen für den Anschlag schon lange liefen, als der in Schwalmstadt einsitzende Gefangene den Brief Ende Oktober verfaßte. Pohl, der während des Hungerstreiks von Februar bis Mai 1989 als Gefangenensprecher fungierte, zeichnet den Prozeß des gescheiterten Hungerstreiks und die nachfolgenden erfolglosen Kompromißbemühungen der Inhaftierten nach. Wir dokumentieren Pohls Brief in Auszügen.

d.Red.

Ich habe mich mit ein paar wenigen Gefangenen verständigt, und wir glauben, die meisten denken so, daß es längst Zeit ist, unter der Geschichte nach dem Hungerstreik einen Schlußstrich zu ziehen.

Für viele draußen ist es noch eine offene Situation, und dadurch hat niemand einen neuen Ausgangspunkt, und es kann nichts angepackt werden. Aus Briefen weiß ich, daß es auch in den Gefängnissen zum Teil noch so ist, eine ganze Reihe wissen nicht, tut sich noch was oder tut sich nichts, und das produziert eine unerträgliche Lähmung.

Kurz gesagt: Es ist nichts mehr offen, es tut sich nichts, wir sind mit unserem Projekt nicht weitergekommen, wir müssen uns auf eine neue Phase des Kampfs orientieren, aber mit den Erfahrungen aus diesem Streik.

Wir haben nach dem Streikende bis August gewartet und dann Verlegungsanträge gestellt, um die drei Gruppen in den SPD -Ländern zu kriegen und eine in Celle. Die Anträge sind abgelehnt. die BAW (Bundesanwaltschaft, d.Red.) hat die Sache wieder ganz in die Finger gekriegt, die alte Nummer, jetzt in einer etwas abgewandelten Variante: Da durch die Prozesse jetzt die Verteilung der Gefangenen nach dem Länderschlüssel sowieso bundesweit neu geregelt werden muß, sollen angeblich einzelne von uns verlegt werden. Nach den Bauchlandungen der BAW in der letzten Zeit wollen sie das dann vermutlich als „Veränderung“ verkaufen und sich so mit Kosmetik aus der Verantwortung für all die Jahre Vernichtungshaft davonstehlen und dabei ihr trostlos-dumpfes Ziel der Zerstörung des Gefangenenkollektivs und des politischen Bewußtseins der einzelnen weiter betreiben.

Wir hatten noch eine zweite Sache versucht. Ab einem bestimmten Zeitpunkt im Streik, als schon deutlich war, daß wir große Gruppen nicht kriegen, sondern höchstens mehrere kleine, haben wir parallel ein Kommunikationsprojekt versucht mit dem Ziel, daß alle am Streik beteiligten Gefangenen wenigstens schriftlich zusammen weiterkommen und wir uns so eine gemeinsame Grundlage schaffen, um am anstehenden Diskussions- und Bestimmungsprozeß teilnehmen zu können.

Wir haben dafür die mehrfach öffentlich aus der evangelischen Kirche erklärte Bereitschaft aufgegriffen, eine Rolle für den „gesellschaftlichen Dialog“ zu übernehmen. Einmal im Streik und dann wieder Anfang Juli. Es ging um eine praktische Sache, durch die eine flüssige und kontinuierliche Kommunikation möglich gemacht werden sollte, was über die Richter- und Knastzensur nicht geht. (...) Ein Projekt für eine begrenzte Zeit, die noch nicht festgelegt war.

Das Sekretariat der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland, d.Red.) hatte sich dann bereit erklärt, das zu machen, und das ganze Projekt, das so ja auch eines von ihnen war, den Politikern auf den Tisch gelegt.

Erst hieß es, Anfang September kriegt die Kirche eine Antwort und wir von ihr, dann Anfang Oktober, und seither ist Schweigen im Walde. Die Antwort ist, daß es nicht beantwortet wird. Auch das ist also klar. (...)

Heute hat sich nach unserem Eindruck draußen alles zum Thema „Diskussion“ hin verschoben, und die Zusammenlegung rutscht in den Hintergrund. Für uns steht aber die Zusammenlegung im Zentrum. Es gibt für uns nichts anderes, das haben wir gerade in dem halben Jahr seit Streikabbruch noch einmal hart gespürt, das war ein finsteres halbes Jahr. (...)

Wir lassen jetzt nicht mehr los, daran hat sich nichts geändert. Jetzt ist die Zeit, die Zusammenlegung und mit ihr als Übergang die Perspektive für unsere Freiheit zu erkämpfen. Das werden wir mit allen Mitteln tun, also auch wieder mit Hungerstreik, wenn es nicht mehr anders für uns geht. (...)

Eines ist, es sind während des Streiks neue Erfahrungen gemacht worden, und neue und bessere Beziehungen entstanden. Wir sagen denen allen: Nicht mehr loslassen, wir werden durchkommen.

Ein zweites ist, und das soll als Schlußstrich jetzt auch klar sein, das, was wir an Möglichkeiten in diesem Abschnitt hatten, ist vorbei - insoweit wir für andere in dieser Zeit die Initiative an uns gezogen hatten und das ihre eigene mitbestimmt hat, ist das alles wieder abgegeben. (...)

Unsere Forderung (nach Zusammenlegung, d.Red.) ist auch kein Gegenstand, den man nach PolitikerInnen-Muster mal vorschieben, mal zurücknehmen, oder gegen andere Themen abwägen kann. Der Kampf dafür betrifft direkt unser Leben, die materielle Notwendigkeit ist unmittelbar. Auch so materielle Notwendigkeit, daß es immer der Kampf ist, in dem wir unsere Identität erhalten, auch wenn wir das Ziel nicht erreicht haben. (...)

Wir haben, soweit es für uns ging, versucht, es (den Zeitpunkt des Hungerstreiks, d.Red.) auf die Entwicklungen draußen abzustimmen, aber es geht eben nicht wirklich in diesen Bedingungen. Das ist ja die Situation, könnten wir Teil des gesamten Prozesses sein, hätte auch das Mittel Hungerstreik für uns nicht so eine Bedeutung, unser Kampf wäre überhaupt ein ganz anderer.

Mit Ergebnissen bzw. Nichtergebnissen des Streiks und den vergeblichen Versuchen, danach einen Anfang einzufädeln, müssen wir jetzt die ganze Vorstellung der letzten Jahre wieder anders fassen.

Was sich an der Linie der BAW abzeichnet, heißt, daß anschließend an den Streik die Widersprüche, die darin sichtbar wurden, gleich wieder ausgeräumt worden sind und daß die Reaktion auf den Kampf für die Zusammenlegung wieder zentral festgezogen ist. Kosmetische Änderungen bei den einzelnen gegen die Mobilisierung mit der entsprechenden Propaganda, Verhinderung kollektiver Prozesse, „der individuelle Gnadenweg“. Und das bedeutet, daß sie diese Linie wieder über eine ganze Zeitspanne hämmern und hämmern werden, weil, wenn es einmal wieder zentral festgelegt ist, soll es das immer auf eine längere Zeit sein, in der sie es durchwalzen wollen, Widerstand ist da einberechnet, sie zielen immer auf Erschöpfung und Zusammenbruch.

Es wird also jetzt noch einmal eine ganze Phase des Kampfs kommen. Die Veränderung gegenüber dem, auf was wir die letzten Jahre aus waren, ist, daß für uns ein Teilnehmen am Prozeß von Diskussion und Praxis für eine politische Weiterentwicklung (...) nicht möglich ist. Nicht, daß wir jetzt daran was umschmeißen wollen, was unsere Orientierung in den letzten Jahren war. Die saugen wir uns nicht aus den Fingern, und dieser Prozeß läuft auch ohne uns. Die Notwendigkeit der Neuzusammensetzung der Kämpfe für eine Umwälzung des Systems, wobei „neu“ nicht „alles anders“, sondern „wieder“ heißt, ist objektiv, den Prozeß bringt jetzt oder etwas später die Situation hervor.

Aber es macht einen Unterschied, ob die Gefangenen daran teilnehmen können oder nicht. Das wird sich auch zeigen. Der Prozeß verläuft wahrscheinlich anders. Weniger einheitlich, weniger als strukturierter, kontinuierlicher Prozeß und mehr als ein Sichdurchschlagen in einzelnen, aus den jeweiligen konkreten Zusammenhängen entschiedenen Vorstößen. Aus unserer Situation finden wir das auch nur richtig. (...)

Der ganze Politikbegriff, den viele noch haben, was eine Politik der Veränderung hier überhaupt noch sein kann, muß überdacht werden. Es gab ja so viel Unterstützung für unsere Forderungen wie noch nie, bis rein in Gewerkschaften, Kirche, Juristenvereine usw., nur um die Breite der Unterstützung jetzt zu sagen. Aber das alles spielt eben eine immer geringere Rolle. Der Staatsapparat hat sich gegen das, was aus der Gesellschaft kommt, weitgehend immunisiert. Da läuft es nach dem Motto: „Dort wird demonstriert, hier wird regiert“. Das reicht von der Auseinandersetzung um die Raketenstationierung bis jetzt.

Was heißt das? Wir kommen da vor allem auf eines - daß Veränderungen nur erreicht werden, wenn man in den Mechanismus, nach dem das Ganze funktioniert, trifft. Die Kosten müssen höher getrieben werden als der Profit, den sie sich versprechen.

Helmut Pohl, Ende Oktober

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