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Das Selbstbegräbnis

Das CSSR-Parlament änderte das Grundgesetz  ■ G A S T K O M M E N T A R

Ohne Kanonenschüsse und Glockenläuten, ohne Jubelrufe oder Tränenausbrüche, ganz normal, ja sogar streckenweise langweilig spielte sich das wichtigste Ereignis der demokratischen Revolution in der CSSR ab: Am Mittwoch, den 29.November um 19.05Uhr, wurde der Artikel4 des Grundgesetzes ersatzlos gestrichen.

Er besagte nichts Kleineres, als daß die Kommunistische Partei die führende Kraft der Gesellschaft ist. Der kurze Absatz war über drei Jahrzehnte rechtliche Legitimation für wechselnde Führungsgruppen, die von ihm ihre totale Macht ableiteten.

Das CSSR-Fernsehen hat zum ersten Mal eine Parlamentsdebatte ausgestrahlt. Es war, als öffnete sich der Vorhang und auf der Bühne stünden sämtliche Bösewichte aus allen bekannten Dramen und Tragödien. Nur kamen sie diesmal allein mit der verbliebenen Dienerschaft, ohne ihre Prätorianer, und vor allem: ohne Macht; die fiel von ihnen bereits in der Vorwoche wie des Kaisers nicht existente Kleider.

Bilak, Jakes, Indra, Fojtik, Stepan und wie sie alle hießen, saßen hier rasiert und frisiert, sichtbar redselig in den Unterbrechungen, ansonsten gefährlich still. Man mußte annehmen, daß sie zum letzten Gefecht um ihre wichtigste Bastion rüsten.

Als sie vor 21 Jahren die Panzer riefen und auf ihren Kanonen die Macht an sich rissen, haben sie sie mit aller Wucht gegen die Reformer angesetzt. Wie eine Weinpresse zerquetschte diese Macht die Nation, aber vor dem Boden blieb sie stecken. Dort lag wie Treber die Schicht derjenigen, die sich entschlossen hatten, in der Wahrheit zu leben.

Bis auf etwa tausend hat diese Schicht sich verdünnt, nur so viele unteschrieben die Charta 77. Die reichten jedoch, um in zwölf Jahren die ausgepreßte Nation wie im rückwärtslaufenden Film wieder mit Saft zu füllen. Nun hat sie via Bildschirm beobachtet, wie diesmal die Erpresser zu ihrer Wahrheit stehen würden.

Und das ganze Land hat gesehen: Es gab keine Wahrheit. Die kleinen Mitläufer, zum Rednerpult geschickt, demonstrierten erschütterndes Niveau der dritten Garnitur, auf die dieses Regime setzte, um von keinem erneut bedroht zu werden, der mehr kannte. Und die Größen? Kein einziger von den Göttern, die noch vor vierzehn Tagen im Namen des Sozialismus das Volk verprügeln ließen, ergriff das Wort. Und aus keinem Mund kam das menschliche - Verzeihung ...!

Als es zur Abstimmung kam, flogen zum letzten Mal in der traurigen Geschichte dieses Parlaments alle Hände in die Höhe, und mit dieser winzigen Bewegung verflüchtigte sich die „führende Kraft“, die das Land bis an den Rand des Abgrunds geführt hat. Dort ruht sie jetzt selbst, formell gerade von jenen zu Grabe getragen, die den Alleinanspruch brauchten, um mit ihm ihre Leere und ihr Nichtskönnen zu bemänteln.

Ohne rechtliche Basis stehen jetzt die bewaffneten Arbeitermilizen, die allmächtige Staatssicherheit, die parteitreue Justiz, die wirtschaftliche Nomenklatura und andere Säulen da, unfähig, noch etwas zu tragen. Und die resignierte Elterngeneration, die noch vor vierzehn Tagen ihre Kinder bekniet hat, nicht ihre Karrieren im Kampf gegen Übermacht zu risikieren, staunt bei diesem Selbstbegräbnis, welche Schneemänner sie beherrschten.

Pavel Kohout

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