: Historischer Gipfel „ohne Tagesordnung“
■ Die Ereignisse in Osteuropa haben dem Treffen zwischen Bush und Gorbatschow Bedeutung gegeben
Heute morgen wird Bush zum ersten Gespräch auf dem sowjetischen Kreuzer „Slava“ (siehe Foto) erwartet. Die Erwartungen der beiden Regierungschefs weichen erheblich voneinander ab: Während der US-Präsident in erster Linie weitere Zugeständnisse der Sowjets hinsichtlich der Regionalkonflikte in Mittelamerika und Kambodscha erwartet, ist Gorbatschow vor allem daran interessiert, daß die US -Handelsbeschränkungen aufgehoben werden. Auch um Kohls 10 -Punkte-Plan zu einer deutsch-deutschen Konföderation werden die beiden nicht herumkommen. Doch für Bush geht alles nur innerhalb, für Gorbatschow lediglich außerhalb der Nato.
Auch wenn seit Wochen von der Bush-Administration als „Gipfel ohne Tagesordnung und ohne konkrete Vereinbarungen“ apostrophiert, sind die Themen der vier Gesprächsrunden natürlich bekannt, zu deren erster sich der US-Präsident heute morgen auf das sowjetische Kriegsschiff „Slava“ begeben wird: Regionalkonflikte, Rüstungskontrolle, Menschenrechte, Kooperation auf verschiedenen Feldern - also die seit der ersten Begegnung zwischen Gorbatschow und Reagan im Jahre 1985 nun schon traditionelle Agenda. Dazu kommen aus aktuellem Anlaß die Entwicklung in Osteuropa und die „deutsche Frage“.
Der Hintergrund, vor dem die beiden Präsidenten dies alles in Malta diskutieren und zumindest in einigen Bereichen grünes Licht für die Ausarbeitung von Vereinbarungen durch Experten oder die Aufnahme von Sachverhandlungen geben dürften, ist die beiden gemeinsame Frage, wie die Großmachtrolle ihrer Länder angesichts der rapiden Veränderungen und der sinkenden Bedeutung des militärischen Faktors bewahrt werden kann.
Am weitesten entfernt von Übereinkünften sind die beiden Großmächte hinsichtlich der von ihnen so definierten Regionalkonflikte. Die von Washington angestrebte „Paketvereinbarung“ über die Einstellung jeglicher Unterstützung an die jeweiligen Verbündeten in Afghanistan und Mittelamerika lehnte Alexander Dzasokhow am Freitag gegenüber der taz kategorisch ab. Diese beiden Fragen seien „völlig unabhängig voneinander“ und könnten „nur getrennt diskutiert und einer Lösung zugeführt werden“.
Dzasokhow, Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im Obersten Sowjet, ist Mitglied der hochkarätigen Moskauer Vorausdelegation aus Gorbatschow-Beratern, führenden Wissenschaftlern, Generälen und Volksdeputierten, die bereits seit Mittwoch in Malta weilt. Washington hat niemanden vorab entsandt - offensichtlich aus Sorge, jemand könne sich, ähnlich wie der Sprecher des Weißen Hauses Fitzwater Ende letzter Woche, verplappern und von Bushs Public-Relations-Linie im Vorfeld des Gipfels abweichen.
Weit weniger entschieden als beim Thema Regionalkonflikte schließen die sowjetischen Experten Gipfelergebnisse im Bereich der Rüstungskontrolle aus. General Viktor Starodubow, ranghöchster Militär in der internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, erinnert daran, daß Moskau der Nato zu Beginn dieses Jahres die Bereitschaft „zu weit größeren Reduzierungen im konventionellen Bereich signalisiert“ habe als derzeit bei den Wiener Verhandlungen anvisiert werden. Falls Bush tatsächlich weitergehende Verringerungen der US-Truppen in Westeuropa oder gar eine panzerfreie Zone auf dem Kontinent vorschlage, werde „die UdSSR dies sehr begrüßen und ihre Bereitschaft zu entsprechenden Schritten signalisieren“.
Deutlich ist die Kritik der Sowjets an Haltungen der Bush -Administration in der Frage wirtschaflticher Beziehungen, was Kontroversen auch für das Gespräch der beiden Chefs erwarten läßt. „Sehr konservativ“ nennt der Wirtschaftswissenschaftler und Volksdeputierte Nikolaij Petrakow den anhaltenden Widerstand Washingtons gegen einen Beitritt der UdSSR zu internationalen Institutionen wie GATT, IWF und Weltbank. Die USA hätten „offensichtlich Angst vor unserer Mitgliedschaft“. Zwar räumen andere Mitglieder der Delegation ein, daß „vor einem Beitritt noch eine Reihe von Anpassungsmaßnahmen unserer Wirtschaft erfolgen müssen“. Doch „politische Vorbedingungen“ - da besteht Konsens - seien „völlig unakzep tabel“.
Und fast allergisch reagieren die sowjetischen Gesprächspartner auf den Begriff „Hilfe“. Die von „amerikanischen Wirtschaftsvertretern und Politikern immer wieder - sicher in gutgemeinter Absicht - gestellte Frage 'Wie können wir euch helfen?'“, sei „eine Beleidung“, betont Ivan Ivanow. Den Sowjets geht es vielmehr um die Abschaffung der Cocom-Liste.
Am unklarsten ist, was angesichts der aktuellen Entwicklungen in Osteuropa vom Gipfel zu erwarten ist außer der wiederholten Versicherung beider Großmächte, sich nicht einzumischen beziehungsweise die (vermeintliche) Schwäche des anderen nicht auszunutzen. Zum Thema einer Konföderation der beiden deutschen Staaten oder gar ihrer Wieder- vereinigung gibt es von sowje tischer Seite keine klaren Fest legungen.
Es wird deutlich, daß Moskau, ähnlich wie Paris seit Mitterrands wahltaktisch bedingtem Schwenk Anfang November, öffentliche Warnungen vor einer Wiedervereinigung zu vermeiden sucht - aus Sorge, sie könnten in der BRD wie in der DDR kontraproduktiv wirken. Es werde „kein zweites Jalta geben“, betonen die sowjetischen Experten immer wieder.
Doch Veränderungen des Status quo der beiden deutschen Staaten könnten, wenn überhaupt, nur im Rahmen eines gesamteuropäischen Prozesses hin zum europäischen Haus erfolgen.
Andreas Zumach, La Valetta
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