: Die SED ist die führende Rolle los
■ Nach 15minütiger Debatte hörte die Volkskammer auf das Volk und strich ersatzlos die Führungsrolle der marxistisch-leninistischen Partei aus der Verfassung / Reisegesetz in erster Lesung beraten / Muntere Aussprache folgte / Sechs Abgeordnete aus dem Parlament ausgeschlossen
Berlin (taz) - Um 12 Uhr 16 war es soweit: Der Lotse mit Lenins Kompaß ging von Bord. Mit übergroßer Mehrheit bei fünf Enthaltungen strich das volkseigene DDR-Parlament nach nur einer Viertelstunde Debatte einen kleinen, aber entscheidenden Halbsatz in der Verfassung. Artikel eins lautet nun: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land.“ Abgeschafft wurde “...unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“. Ein Antrag der CDU, auch die „Arbeiter und Bauern“ zu streichen, weil es schließlich noch andere soziale Gruppen gebe, fand nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit.
Ohne Führung im Geiste Lenins diskutierte es sich sehr munter - wenn auch die Fragen der Abgeordneten präziser und schärfer waren als die Antworten der Minister. Die Volkskammer erwies sich als Nische direkter Demokratie in einer weiterhin feudalen Struktur.
Für Sonntag hat das Politbüro der SED eine außerordentliche Tagung des Zentralkomitees (ZK) der Partei einberufen, um die Lage der Partei zu beraten.
Zu Beginn der gestrigen Volkskammersitzung wurden auf Antrag der gewendeten FDJ-Fraktion zunächst mehrere Abgeordnete ausgeschlossen, darunter der langjährige stellvertretende Staatsratsvorsitzende und Exchef der Nationaldemokraten (NDPD), Heinrich Homann, und der Ehrenvorsitzende der Bauernpartei, Ernst Goldenbaum. Wegen dubiosen Finanzgebarens wechselte die CDU ihren Ex -Vorsitzenden Götting aus. Zuvor waren gegen die ehemaligen Partei- und Staatsführer Honecker, Stoph, Kleiber, den Ex -Stasi-Chef Mielke und den abgesetzten Gewerkschaftsvorsitzenden Tisch Ermittlungsverfahren wegen Amtsmißbrauch und Vergeudung von Staatseigentum eingeleitet worden. Dazu ist jedoch die Aufhebung der Immunität durch die Volkskammer notwendig.
In erster Lesung wurde der Kammer das neue Reisegesetz vorgelegt, das allen DDR-Bürgern einen Paß und visafreies Reisen ins Ausland bescheren wird. Wiederholt befragt vom Parlament, meinte Finanzministerin Nickel, an der Ausgestaltung eines Devisenfonds werde „intensiv gearbeitet“. Die Höhe des Reisegelds hänge aber auch von der Wirtschaftsentwicklung ab. Fortsetzung auf Seite 2
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Die anschließenden Aussprache kam - anders als das Bonner Parlament - ohne Fensterreden aus. Allround-Wissenschaftler Manfred von Ardenne stellte „eine erschreckende Resistenz des alten Apparats gegenüber den neuen Ministern“ fest und empfahl radikales Aufräu
men: „Wer dazu nicht die Kraft hat, den bestraft das Leben.“ Ardenne regte auch eine Verwaltungsreform an, bei der die fünf historischen Länder wieder eingeführt werden müßten.
Den zu glatten Ablauf der Kehrtwende kritisierte ein Vertreter der FDJ: „Die Art und Weise, wie wir der Regierung (Modrow) zugestimmt haben, war ein Rückfall in die unmündige Zeit unseres Hauses. Wir sind zur Wende diszipliniert worden und haben ihr gerade dadurch keinen Dienst erwiesen.“
Der CDU-Abgeordnete Heinrich Toeplitz kritisierte Generalstaatsanwalt Wendland. Bei Untersuchungen der Übergriffe Anfang Oktober sei die grundsätzliche Frage nicht beantwortet worden, wer die Demonstration als „antisozialistisch“ eingeschätzt und diese Einschätzung den Sicherheitskräfte übermittelt habe.
Da die Abgeordneten als direkte Vertreter der Bevölkerung auftraten, traten Fragen der Versorgung und der Jahresprämien in den Mittelpunkt der Aussprache. Ein Gewerkschaftsvertreter warnte vor Ausländerfeindlichkeit in den Handelsor
ganisationen „wegen leerer Regale“. In Sachen Jahresprämie versuchte die Arbeitsministerin, die Unruhe in den Betrieben zu befrieden, indem sie für 1989 eine Übergangslösung ankündigte. Die Regierung Modrow hatte kürzlich jede Planmanipulation verboten, durch die zu Zeiten der Stagnation bei Planuntererfüllung zumindest die Jahresprämien ausgezahlt wurden.
Über eine Entschuldigung der Volkskammer wegen des Einmarsches in die CSSR 1968, wie sie von DDR-Autoren am Mittwoch gefordert worden war, wurde bei Redaktionsschluß noch nicht entschieden.
smo
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