: Selbstgerecht-betr.: Unpopuläres zur Freiheit des Volkes
Unpopuläres zur Freiheit des Volkes
Zugegeben, weder bei den gestandenen noch bei den fallengelassenen beziehungsweise rechtzeitig gewendeten und sich immer noch windenden SEDlerInnen, auf die derzeit die Schelte von „Volk“ und Medien beider Seiten niederprasselt, handelt es sich um Unschuldslämmer. Daß sie nun aber die gesamte und alleinige Schuld treffen soll, ist nicht nur ungerecht, sondern selbstgerecht.
Wo war das Volk denn all die Jahre, das jetzt gefeiert wird, nun, da es sich unter dem Einfluß von Perestroika und Glasnost (Gorbatschow und der zerrütteten sowjetischen Wirtschaft sei Dank) endlich hervorgewagt hat. - Natürlich gab es den 17.Juni mit der brutalen militärischen Erledigung einer massenhaften Erhebung, und zweifellos waren es solche Erfahrungen, die die DDR-BürgerInnen veranlaßt haben, sich einzurichten in ihrem Staate, so gut oder so schlecht es eben ging. Aber es war dennoch das „Volk“, das sich dem allgegenwärtigen „freiwilligen Zwang“ - sei es der Existenz oder der Privilegien halber - gebeugt hat. Es war immer nur eine kleine radikale Minderheit, die etwa auf ihrem gesetzlich garantierten Recht der geheimen Wahl bestanden und sich dem Druck, unter den sie deshalb geraten ist, widersetzt hat. Ähnliches spielte sich ab bei den Kollektivierungen oder beim „pro-forma„-Eintritt so vieler in die sozialistische Einheitspartei. (...)
Wir sollten deshalb vorsichtig sein mit der von beiden Seiten der gefallenen Mauer ausgehenden euphorischen Beschwörung des „Volkes“. So erfreulich es ist, daß die Menschen in der DDR die Gunst der Stunde in diesem Herbst zu nutzen wußten, eingedenk der kritischen Umstände, unter denen sich dies vollzog, so wenig ist davon auszugehen, daß dieses „Volk“ fortan immun ist gegenüber Fremdbestimmung. „Der Westen“ hat seine Chance als Garant für Kontinuität in Sachen Abhängigkeit denn auch sofort erkannt. Lautstark nach Freiheit und Selbstbestimmung für die Brüder und Schwestern in der DDR verlangend, weiß er gleichzeitig, was darunter zu verstehen ist. Nur ein selbst-bewußtes oder sich wenigstens selbst bewußt werdendes Volk hätte eine Chance gegen neue, es erdrückende Umarmungen. Fatalerweise sind derlei selbstkritische Reflexionsprozesse immer sehr unpopulär. Aber nur so könnte verhindert werden, daß sich die Freiheit des „Volkes“ darauf reduziert, SED-Pflaumen gegen Bananen und Kohl einzutauschen.
Elke Zeun, Marburg
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