Die Wende wird zum „Wandlitzgate“

■ Die Enthüllungen über Amtsmißbrauch und Korruption erzeugten bodenlose Wut bei der SED-Parteibasis

Am Tag vor dem Rücktritt des Politbüros zogen Tausende SED -Parteigänger vor das ZK-Gebäude und äußerten lautstark ihren Unmut über die Mißstände in der Führungsriege. Die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses hatten gezeigt, daß die DDR-Bonzen jahrelang ungeniert in die eigene Tasche gewirtschaftet hatten.

Vor der nachtdunklen Tavertin-Fassade des ZK-Gebäudes, bei Eiseskälte: Egon Krenz geht an den Mikrophonen vorbei und versucht, ein Bad in der „Basis“ zu nehmen. Mehrere tausend Parteimitglieder, frisch gewählte Parteitagsdelegierte, Boten von den Kreisdelegiertenversammlungen haben sich zusammengefunden. „Egon, eine Frage, nein zwei“, schreit ein Mann mit überkippender Stimme. „Warum hast du nicht Farbe bekannt in der Volkskammer? Du hast doch auch in Wandlitz gewohnt!“ Egon Krenz versucht zu antworten. „Glaubst du nicht, daß mich das tief ins Herz getroffen hat...“ Er kann nicht ausreden, die Basis schreit: „Lippenbekenntnisse“, „Torschlußpanik“. „Ich bekenne, daß ich in Wandlitz gewohnt habe, aber...“, versucht es Krenz aufs neue. Die Basis schreit auf ihn ein. „Rücktritt, Rücktritt!“ Das „Aber“ will sie gar nicht mehr hören.

Ein Transparent wird geschwenkt: „Erich war der Gipfel, Egon ist die Krönung.“ Krenz weicht zurück. Seine tonlose Versicherung, er werde die „Stimmung“ der Basis dem ZK übermitteln, wird schon gar nicht mehr gehört, obwohl sie nun übers Mikrophon kommt. Krenz wird noch einmal reden. „Ich werde alles, alles tun...“. Aber die Masse skandiert schon: „Deine Zeit ist um.“ Er wird regelrecht von der Kundgebung vertrieben.

Denn was nun folgt, ist eine Abrechnung, wie sie schonungsloser kaum vorstellbar sein kann. Die Worte, die sich durch alle Redebeiträge ziehen, ergeben einen Kontext: Wut, Bitterkeit, Tränen, die beschmutzte Ehre der Partei, die Verbrecher, der Abgrund. Sofortiger Rücktritt von Krenz, vom Politbüro, vom ZK wird gefordert. Statt eines Politbüros soll es nur noch ein „Arbeitssekretariat“ geben. Der Vertreter des Kreises Prenzlauer Bergs, der zur Kundgebung aufgerufen hatte, stimmt den Ton an: „Das neue Politbüro hat seinen Vertrauensvorschuß verspielt.“ Die Chance, die Korruption aufzuklären, hat die Partei versäumt. Die weißen Flecke sind da, allein die Medien würden aufdecken. Massenaustritte seien das Ergebnis - 200.000 haben die SED schon verlassen, eine Million den Gewerkschaftsbund FDGB.

Eine Frau, seit 28 Jahren Mitglied der SED: „Welche Privilegien habe ich denn gehabt? Zu arbeiten und zu kämpfen. Jetzt kämpfe ich darum, daß das, was die Führung angerichtet hat, nicht zur Zerstörung der Partei führt.“ Die Direktorin der Krupskaja-Oberschule: Jetzt müsse sie vor den Augen ihrer Schulkinder die Bilder der Antifaschisten und Helden der Arbeiterklasse abhängen.

Die „Plattform Grundorganisation WF“, das Werk für Fernsehelektronik, der größte Betrieb Ost-Berlins, wird zitiert von einem Delegierten der Grundorganisation Schabowski hatte sie wütend als „Fraktionsbildung“ verurteilt: „Der Parteiführung und dem sie stützenden Apparat entziehen wir unser Vertrauen.“ Zwar werden alle Rücktrittsforderungen auch von Solidaritätserklärungen zu Modrow begleitet. Duchgehender Tenor aber auch hier: „Wir werden immer noch verladen.“

Es redet das Parteivolk, das ein Teil des DDR-Volkes ist. Die Unteroffizierin der NVA-Neubrandenburg, Ulrike Kahl: „Uns haben sie zu Kommunisten erziehen wollen und selber wie die dicken Kapitalisten gelebt. Schluß mit diesen Verbrechern. Ich persönlich sage mich von diesen Schmarotzern los. Diese drei Buchstaben SED stecken mir im Hals.“ Tatsächlich - wenn man nach den Berichten aus den Grundorganisationen geht, steht der Name auf dem Parteitag zur Disposition. SP, Sozialistische Partei, wird als neuer Name diskutiert. Harald Kreutz von der Kreisleitung der Humboldt-Universität setzte gar einen Termin: „Neugründung einer modernen sozialistischen Partei in drei Monaten.“

Neue Namen für die Parteiführung waren gestern immer wieder: der Rechtsanwalt Klaus Gysi und der Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer. Gysis Rede klang in der Tat wie eine Kandidatur: „Ich finde, jetzt reicht's. Wenn ihr die Partei nicht säubern könnt, dann müssen es andere tun. Die Chance ist vertan worden, der Untersuchungsbericht (des Volkskammerabgeordneten Töplitz) hat gezeigt, daß andere schneller sind als wir.“ Aber auch die Ablösung des Apparates, der „zweiten Treppe“, ist im Gang. In den Delegiertenwahlen für den Parteitag in den Grundorganisationen sollen die Reformerlisten durchgestimmt werden.

Aber es geht nicht nur um den Austausch der „zweiten Treppe“. Das zeigten die Anträge, die anschließend auf der Delegiertenkonferenz der Humboldt-Universität eine Mehrheit fanden: Parteiverfahren, Sicherstellung des Aktenmaterials der Stasi, Sicherstellung aller Archive der Partei. Die Frage war nur noch, an wen die Anträge adressiert würden. An das Politbüro? Nein - die Delegierten nahmen schon die Zukunft der Partei vorweg: An ein neu zu wählendes „Arbeitssekretariat“, das an die Stelle des Politbüros treten wird, will man sich wenden.

Kreutz, der Delegierte der Humboldt-Universität, hielt denn auch die programmatischste Rede. In Stichworten: „Arbeitspräsidium“, „Veröffentlichung aller Grundpositionen“, „Neues Statut und neuer Name“, „Abbau des Machtmonopols“, „Bestrafung“, „Offenlegung aller Parteifinanzen“. Auch einen Wunschkandidaten fürs Amt eines Staatspräsidenten umschrieb er. Die Basis verstand: Walter Janka.

Ein Delegierter aus Königswusterhausen setzte den Traum einer neuen Partei fort: Das verfallende Haus brauche keine neuen Tapeten, sondern ein neues Dach. Rot soll es sein. Aber ein Haus mit vielen Farben, auch mit Grün. Zwei Ziegel: Gysi und Berghofer. Ob diese Vision reicht - wie es ein Redner beschwor -, den „Weltsozialismus“ vor dem Abgrund zu retten? Die Kundgebung endete abrupt mit der Frage: Was machen wir, wenn Krenz und das ZK morgen nicht zurücktreten? „Dann sind wir wieder hier.“ Eine ernsthafte Drohung. Als der Gesang „Dem Karl Liebknecht haben wir's geschworen“ angestimmt wurde, hasteten alle auseinander, viele zurück zu ihren Grundorganisationen.

Klaus Hartung