: Menschenkreuz in Ost-Berlin
Hunderttausende bildeten Menschenkette quer durch die DDR / Grenzüberschreitende Aktion in Bayern ■ Aus Berlin Beate Seel
Aus den Lautsprechern beim Weihnachtsmarkt am Prenzlauer Berg wehen Fetzen eines Liedes über das kleine Jesulein hinüber in Richtung Schönhauser Allee. Hier sammeln sich bereits die ersten OstberlinerInnen mit Kind und Kegel, um den ersten Advent auf ihre Weise zu begehen: mit einer Menschenkette quer durch die DDR. Aufgerufen hatten das Neue Forum, Aktion Sühnezeichen und andere Bürgerinitiativen. An der Ecke zur Dimitroffstraße stauen sich bald die Leute. An dieser Stelle treffen die Nord-Süd- und die Ost-West-Kette zu einem symbolischen Menschenkreuz zusammen.
„Wir sind hier, um zu zeigen, daß Reisefreiheit nicht alles ist. Wir wollen eine demokratische Entwicklung in der DDR“, sagt einer der Teilnehmer der bislang beispiellosen Aktion. „Wir wollen denen da oben zeigen, daß wir nicht einschlafen“, kommentiert sein Freund, „die da oben bewegen sich ganz schön langsam.“ Alle Altersgruppen sind vertreten, Ehepaare, Jugendliche, Familien, die ihren Sonntagsausflug auf die Straße verlegen - Menschen, soweit das Auge reicht.
Es ist wahrlich ein Bild des Friedens. Viele halten sich an den Händen, andere haben Kerzen mitgebracht. Plakate sind nur selten zu sehen. „Für eine wirklich freie Entscheidung: Jugendweihe oder Konfirmation“ heißt es auf einem, „Geben sie die geraubten Druckmaschinen der Umweltbibliothek heraus!“ auf einem anderen. Neben dem nun schon üblichen „SED - ade“ fordern andere Spruchbänder: „Schluß mit dem SED -Schlaraffenland!“ oder „Betrogene aller Bezirke vereinigt euch!“
Als die Reihen dicht geschlossen sind, rückt die Menschenkette vor auf die Straße, besetzt die Gleise der Straßenbahn. An das in der Presse weitergegebene Verbot „Kreuzungen und Bahnanlagen dürfen nicht blockiert werden“ hält sich niemand. Autos können passieren, einige unterstützen hupend die Aktion. Ruhig stehen die Menschen da, die Szenerie erinnert eher an eine riesige Mahnwache als an eine politische Demonstration. Lebhaft wird es, wenn Wagen der Fernsehteams langsam vorbeifahren - aus Japan, den USA, der Bundesrepublik. „Ich vermisse das DDR-Fernsehn“, moniert meine Nachbarin. „Die sind wahrscheinlich an der falschen Stelle, wie immer.“
Pünktlich um 12.15 Uhr löst sich der Zug auf. Die Kerzen werden auf die Bordsteinkante gestellt. Dort flackern sie noch, als die Straße schon leer ist und Menschen im nahegelegenen U-Bahnschacht verschwunden sind.
Hunderttausende müssen es gewesen sein, die ungeachtet der Kälte entlang der beiden ingesamt 1.300 Kilometer langen Strecken auf den Beinen waren. In Eisfeld (DDR) und dem bundesdeutschen Rottenbach in Bayern kam es gar zu einer grenzübergreifenden deutsch-deutschen Menschenkette. Mit Kerzen und grünen Bändern folgten hier rund tausend Personen einem Aufruf des Neuen Forums Eisfeld, um sich für die Herzlichkeit zu bedanken, mit der die DDR-BürgerInnen nach der Öffnung der Grenze in der Bundesrepublik empfangen wurden.
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