: Supermächte setzen auf Zeitgewinn
■ Kohls Bundesstaat soll ausgebremst werden
Offiziell geben sich die beiden Supermächte abstinent. Nimmt man die Andeutungen und Statements sowohl von Bush als auch von Gorbatschow etwas genauer unter die Lupe, bleibt unter dem Strich vor allem eines: beide wollen Zeit gewinnen. Das gilt auch für das anschließende Gespräch Bush-Kohl: Bush wollte zu Kohls deutschlandpolitischem Programm nicht ja sagen, und nein sagen konnte er auch nicht. Schließlich, darauf insistierte Kohl natürlich im Anschluß seines Gesprächs mit Bush, könne sich die USA kaum gegen das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ stellen und folglich einer intensiveren Beziehung zwischen der Bundesregierung und einer zukünftigen gewählten Regierung der DDR keine Steine in den Weg rollen. Der sich abzeichnende Konflikt im Hintergrund ist dabei wohl vor allem die Frage: Deutschland zuerst oder Europa zuerst?
Verbal kommt Kohl den Irritationen über sein Programm dabei durchaus entgegen. Das deutsche Problem könne unter einem europäischen Dach gelöst werden, wiederholte er auch in Brüssel eine Formel, die seit Jahren zum Standardrepertoir sowohl der CDU als auch der SPD gehört. Doch bereits die Art und Weise, wie sein 10-Punkte-Programm als geheime Verschlußsache, vorbei an dem eigenen Außenminister und seinen europäischen EG-Partnern, vorbereitet wurde, weckte massives Mißtrauen an den realen Absichten des CDU-Kanzlers. Die 'Spiegel'-Lektüre mit den Vorstellungen des DDR -Ministerpräsidenten dürfte da kaum zur Entwarnung beigetragen haben. Für Modrow gibt es im Moment anscheinend nur noch einen kategorischen Imperativ: Was immer letztlich im deutsch-deutschen Prozeß herauskommt, die polnische Westgrenze darf nicht zur Disposition stehen. Alles andere ist praktisch offen.
Die Antwort der Supermächte darauf ist sowenig konkret wie die der anderen EG-Staaten insgesamt. Außer langsam, langsam, fällt ihnen wenig ein. Gorbatschow möchte immerhin im kommenden Frühjahr eine Neuauflage der Helsinki -Konferenz, um die Konturen seines europäischen Hauses deutlicher herausarbeiten zu können. Ob dies allerdings reicht, die Dynamik der Entwicklung innerhalb der DDR in europäische Bahnen zu lenken, ist bereits jetzt fraglich. Wenn Bush und die EG es bei ihrer bisherigen Abstinenz belassen, werden sie weder Kohl ausbremsen noch den DDR -Bürgern, die ihre Hoffnungen auf Verbesserungen an ein Zusammengehen mit der BRD hängen, eine glaubwürdige Alternative aufzeigen können. Im schlechtesten Fall liefe es auf die jeweilige Staatsräson der beiden Militärblöcke hinaus. Das hätte allerdings mit einer neuen Ära wenig zu tun.
Jürgen Gottschlich
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