Stasi in Volkseigentum

Leipzig (taz) - Die Deeskalation war vorbereitet. Schon auf der Demonstration vor acht Tagen war klargeworden, daß die Massen beim nächsten Mal vor dem Stasi-Komplex nicht mehr nur „Ihr seid das Letzte!“ skandieren und dann unter Hinterlassung tausender Kerzen friedlich nach Hause ziehen würden. Jochen Läßig vom Neuen Forum: „Die Massen lassen sich nicht mehr halten!“

So einigten sich die Oppositionsgruppen auf ein gemeinsames Vorgehen, und am Montag wurden die Massen auf den traditionellen Treffpunkten Kirche, Karl-Marx-Platz und Stasi-Gebäude vorsichtig auf die vollendete Tatsache vorbereitet: Der Stasi-Komplex muß nicht gestürmt werden, die Opposition ist doch schon da.

In der Nikolaikirche hatte schon während des Friedensgebetes am Nachmittag eine Mitteilung zu begeistertem Beifall geführt: „Die Staatssicherheitsorgane haben dem Rat der Stadt mitgeteilt, das von ihnen genutzte Gebäude könne ab dem 1.April 1990 einer anderen Verwendung zugeführt werden.“ Bei der Kundgebung auf dem Karl-Marx -Platz dann - beinahe nebenbei angekündigt - eine „Information“: Vertreter aller oppositionellen Gruppen Leipzigs hätten Verhandlungen mit dem Bezirksstaatsanwalt aufgenommen, um die Versiegelung der Amtsräume der Stasi vorzubereiten. Alle jubeln, viele erstaunt: „Donnerwetter, die haben Initiative!“

Eine Dreiviertelstunde später ist der Demonstrationszug um den Altstadtring am Stasi-Gebäude angekommen. „Faules Pack“ und „Waffenschieber“ wird immer wieder im Chor gerufen. Dann eine Durchsage vom Balkon über dem Haupteingang: „Vertreter des Demokratischen Aufbruchs, des Neuen Forums, der Vereinigten Linken und weitere Bürger der Stadt haben vor zirka einer halben Stunde das Gebäude unter Kontrolle genommen!“ Die Akten sollen gesichert, die einzelnen Amtszimmer versiegelt werden, man warte auf einen Rechtsanwalt, habe auch schon einen Plan des Geländes und den „Objektleiter“ im Balkonzimmer. Die Menschen sind begeistert. So ein Tag, so wunderschön wie heute! und „Stasi, deine Zeit ist um, Stasi...“ (auf die Melodie Ja, mir san mi'm Radl da).

Dann wollen die Menschen mitmischen („Wir wollen rein!“). Ein neuer Sprecher beruhigt die Massen: Man sei eine kleine Gruppe. Für die Auswertung der Akten seien Tausende in dem Gebäude ja auch nicht effektiv. Auch wenn man acht Wochen lang zuviel Geduld gehabt habe: Hektik sei jetzt auch „schlimm“. Die Warnung wird verstanden. Wer von den Nachdrängenden jetzt noch lauthals „rein“ will, wird vom Nachbarn belehrt, das mache keinen Sinn.

Schließlich kommt vom Balkon eine Bitte um ungefährliche Mithilfe: „Bildet eine Menschenkette um den Komplex, damit keiner mit Akten verschwinden kann.“ Die Leute besetzen die Eingänge und stehen auch vor niedrigen Fenstern. „Licht an, Licht an“ - man will von draußen sehen, wie es weitergeht und eigentlich noch mehr: „Fernsehen rein!“ wird gefordert, und dann präziser: „ARD und ZDF“.

Der Abend ist gelaufen. Jetzt fangen wieder die Sprechchöre an: „Rote aus den Demos raus“ und „Deutschland, Deutschland“.

Georgia Tornow