: Leipzig: Verbaler Kampf um deutsche Einheit
Die Mehrheit der Demonstranten in Leipzig und in anderen Städten will kein wiedervereinigtes Deutschland / Aber der Gedanke an eine deutsche Konföderation gewinnt in der DDR an Sympathie / Die Demotransparente sind eine einzige pluralistische Plakatezeitung ■ Aus Leipzig Reinhard Mohr
Wieder hatten sich am Montag abend Hunderttausende von Leipzigern auf dem Karl-Marx-Platz versammelt - einen Tag nach dem Rücktritt der gesamten SED-Spitze in Ost-Berlin. Während zuvor in der Nikolaikirche der Appell erging, sich auch um diejenigen zu kümmern, deren Weltbild zerbrochen sei - die Anspielung auf Selbstmorde von SED-Mitgliedern war unverkennbar -, trugen die Demonstranten Transparente mit dem Konterfei der einst Übermächtigen herum, die weniger von Nächstenliebe als von unbändigem Zorn zeugten. Begeisterung erregte ein Plakat, das Erich Honecker in Sträflingskleidung zeigte. „Tschüß Egon“ war auf einem anderen zu lesen. Krenz sitzt wie der Baron Münchhausen auf einem hufeisenförmigen Magneten und grüßt mit dem Stahlhelm, der ihn ins Niemandsland zwischen Himmel und Hölle zieht.
Das Thema der „deutschen Einheit“ beherrschte neben der Empörung über Korruption, Devisenschmuggel und den kapitalistischen Lebensstil der abgesetzten SED -Führungsgarde die Leipziger Demonstration. Auch in vielen anderen Städten in der DDR wie Dresden, Neubrandenburg, Cottbus und Karl-Marx-Stadt gingen Zehntausende mit ähnlichen Forderungen auf die Straße. Während Einigkeit gegenüber den für viele unglaublichen Machenschaften der Wandlitzer Luxusgreise herrschte, wogte der verbale Kampf zwischen „Deutschland, einig Vaterland“ und Pfiffen dagegen hin und her. Auf unzähligen Plakaten und Transparenten schrieb das Volk von Leipzig seine eigene, durch und durch pluralistische Zeitung. „Nie mehr 'Deutschland erwache‘!“ trugen die einen vor, „Einheit Deutschlands - letzte Chance für die Wirtschaft, Hoffnung für das Volk“ die anderen, während eine Frau die „deutsche Frage“ mathematisch zu lösen versuchte: „DDR + BRD Deutschland“ - „in den Grenzen vom 9.November 1989“, fügten wieder andere hinzu.
Die Gruppe der „harten Wiedervereiniger“ stellte in Leipzig und auch anderswo bei weitem nicht die Mehrheit der Demonstranten. Aber der Gedanke an eine Konföderation, die zu einem deutschen Bundesstaat führen könnte, hat offensichtlich an Sympathie gewonnen. RednerInnen auch oppositioneller Gruppen sprachen sich auf der Kundgebung zu Beginn der Demonstration in Leipzig für eine „Konföderation mit dem Ziel der deutschen Einheit“ aus. Sie erhielten dafür riesigen Beifall. „Um den völkerrechtlichen Schwebezustand zu beenden“, plädierte eine Sprecherin für einen Einigungsprozeß in Absprache mit der EG, bei Garantie der polnischen Westgrenze und „in Solidarität mit der Dritten Welt“. Das Tempo sollten „die Bürger der beiden deutschen Staaten selbst bestimmen“.
Ein weiterer Redner sprach von einer „nationalen Identitätskrise“ der DDR, gegen die eine „sofortige Wiedervereinigung“ überhaupt nicht helfe. „Das würde nur die demokratische Bewegung spalten.“ Nicht Wunschdenken, sondern zielbewußtes Handeln sei das Gebot der Stunde. Zunächst sollten deshalb beide deutsche Staaten ihre Rüstungsausgaben um 50 Prozent kürzen. Ein anderer sah Zukunft nur für ein Deutschland, das seine Nachbarn nicht bedroht und Ausländer nicht ausgrenzt.
Die Diskussion um eine mögliche Wiedervereinigung war am Montag durch eine Meldung der Nachrichtenagentur 'adn‘ verstärkt ins Gespräch gebracht worden, nach der zwei Mitglieder des Neuen Forums zu einem Volksentscheid über die deutsche Wiedervereinigung aufgerufen haben sollen. Der Landessprecherrat des Neuen Forums hat diese Berichte inzwischen dementiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen