: FERTIGTEILBEZIEHUNGEN
■ Filme von Bela Tarr im Arsenal
„Wahrscheinlich mache ich Filme, um mein Schicksal herauszufordern. Um der am meisten erniedrigte und zugleich der freieste Mensch zu sein. Weil ich Geschichten verabscheue, denn die Geschichten machen einen glauben, es sei etwas geschehen. Tatsächlich geschieht aber nichts: Man flieht aus einer Situation in die andere... Was bleibt, ist nur die Zeit.“
Der Ungar Bela Tarr, der seit 1977 sechs Spielfilme gedreht hat, hat versucht, diese seine Dostojewskische Psyche in das bekannte Tarkowskische Zeitmaß zu übersetzen. Glücklicherweise gelingt ihm das nur halb. Glücklicherweise ist Tarrs Ungarn nicht so sauber wie Tarkowskis Rußland und Bela Tarr nur ein armer Filmpoet. Der, als er anfing, keine Farbe hatte, keine Schauspieler, kein Geld. Dafür ein einfaches soziales Milieu. Und so sind ihm seine Geschichten eintönig geraten, die Bilder sparsam, die Cadrage ohne Objekte und der Film dafür echt. Die Wohnungen dieser Menschen in den Arbeitervierteln haben sich als zu eng erwiesen, um der Metaphysik Raum zu geben, und die Menschen als zu natur- und geschichtenlos, um sich zu einer Objektwelt in Bezug setzen zu können: Alles, was der Film festhalten kann, sind zerstörende Gespräche in einer grauen, sozialistisch ver- und entdinglichten Welt, Menschen, die in ihren Monologen feststecken, Bekenntnisse ohne Adressaten und Rückkoppelung.
So entstand, was man Pseudodokumentarfilm nennt. Die ersten drei Filme von Bela Tarr sind solche Milieuschilderungen aus den Niederungen des ungarischen Alltags: In seinem Erstlingsfilm Familiennest von 1977 hat Tarr die Kamera zwischen die zahlreichen Familienmitglieder in der engen Einzimmerwohnung geschoben, wobei die Kamera vor allem dem Schwiegervater und der Schwiegertochter gegenübersitzt. Gesprochen wird ununterbrochen über das fehlende Geld, das Durchfütternmüssen, die fehlende Wohnung, unkorrektes Verhalten und schlechte Kindererziehung. Die dazugehörigen Affekte sind Neid, Argwohn, Haß. Die einzigen, die nach draußen, vom Tisch weg dürfen, sind die Männer, sie gehen in die Kneipe, das ist der Ort des Anderswo. Die Schwiegertochter überschreitet fast ein Tabu, als sie schließlich aus diesem Tischkreis ausbricht, um mit ihrem Kind vor Mann und Schwiegervater zu fliehen, die sie verdächtigen, sich mit Männern herumgetrieben zu haben, während sie in Wirklichkeit Überstunden machte in der Fabrik. Die Phantasie der Männer setzt sich bei ihnen selbst allerdings in Handgreifliches um: Eine zu Besuch kommende Zigeunerin ist ihnen gerade zum Vergewaltigen gut. Der Ausbruch ist für die Frau keine wirkliche Lösung, sie muß das Kind weggeben, um arbeiten zu gehen, sie sitzt alleine in einer Wohnung, zu der sie sich illegal Zugang verschafft hat, und denkt nur an ihren Mann zurück.
Bela Tarr, der dem Zuschauer keine Möglichkeit zum Entkommen und zur Zerstreuung läßt, der ihn festhält vor diesen Gesichtern, die so aufgedunsen und großporig sind, macht uns wieder zuhören auf die krummen Aussagen, man wundert sich über so viel Sprachgeduld. Und man sehnt sich, herauszukommen aus diesen nahen Interviewsituationen, man sehnt sich mit den Protagonisten aus dieser Enge hinaus.
Sein zweiter Film Der Außenseiter von 1979 ist die Geschichte eines jungen Zigeuners, eines ausgezeichneten Fiedlers, der so gerne Beethoven wäre. Er ist ein ungewöhnlicher Krankenpfleger, der die Irren mit seinem Gefiedele unterhält, der aber, weil er auch schon mal mit ihnen trinkt, seine Stelle verliert. Er nimmt einen Job in einer Fabrik an, heiratet eine Unschuld vom Lande, ist gutmütig und wird dennoch blaß. Ein Freund stirbt an einer Überdosis Tabletten während seiner Hochzeit, seine Frau will seinem Bruder, der keine Wohnung hat, keine Unterkunft gewähren, sie nervt ihn mit ihrem andauernden Gerede übers Geld. Seine Einberufung zum Militär gegen Ende verschiebt nur das unausgetragene Eheproblem. Dieser Farbfilm gibt uns ein bißchen mehr Tiefendimension und Spielraum für Handlung, und doch zeigt er nur jene Flucht von einer Situation in die andere, die eben keine Geschichte ergibt.
Sein dritter Film von 1982, Betonbeziehung oder, konkreter übersetzt, Fertigteilbeziehung, stellt thematisch die Fortsetzung des ersten dar, in dem alles von einer Wohnung abhing. Das Ehepaar hat jetzt die Wohnung und auch die beiden Kinder, die nötig waren, um sie zu bekommen, hat die Schrankwand und die Klappcouch und feiert den neunten Hochzeitstag mit einer Flasche Haarspray und einer Flasche Schnaps: Da bricht in der Frau, weil ihr Mann endlich mal da ist, neun Jahre Einsamkeit auf. Alle Feste in Bela Tarrs Filmen kippen in Verzweiflungsausbrüche um. Die Frau redet über die Klamotten, die sie nicht hat, und über die Pflichten, die sie hat, und über die Freundinnen, die sie wegen der Klamotten, die sie nicht hat, nicht besuchen kann, und über das dumme Einerlei ihrer Existenz. Der Mann kann dazu nichts sagen. Männer sind in Tarrs Filmen häufig aufgedunsene Empfindungskrüppel, deren letzter emotionaler Rest dem Alkohol, dem Fußball und dem Fernsehen gilt. Heiter ist dieser Mann nur an seiner Arbeitsstelle, in der Schaltzentrale eines modernen Betriebs, weil er dort mit den Kollegen Fußball spielt.
Diesmal läuft der Mann davon aus dieser Familienklebesituation und von dieser Ehefrau, der ein Auto weniger wichtig ist als der Wunsch, ihren Mann bei sich zu haben. Sie sitzt immer nur betreten herum, wenn er mit Kollegen singt oder mit einer anderen Frau beim Betriebsball tanzt. Als er zum Mehr-Geld-Verdienen nach Rumänien gehen will, lehnt sie das rundweg ab. So muß er schon Gewalt anwenden, um zur Wohnungstür hinauszukommen. Im Schlußbild sind die beiden wieder vereint, in einem gemeinsamen Waschmaschineneinkauf, sie sitzen schweigend auf einem Laster, den Waschmaschinenklotz neben sich...
Mit dem folgenden Film Herbstalmanach von 1987 hat Tarr die Proloszene verlassen und die Dostojewskische Psyche in eine abstrakte Reinform gebracht: In einer etwas heruntergekommenen, ehemals prächtigen Villa leben fünf Personen zusammen, die zwischen Hysterie und Lethargie pendeln und ebenso requisitenhaft wirken wie die drapierten Samt- und Seidentücher um sie herum. Es wird viel geredet, Philosophisches und Metaphysisches, aber manchmal auch plötzlich übers Geld, das hinter dem Ganzen steckt, und um das alles kreist wie um die alte Frau, die als einzige welches hat, und an der die Krankenschwester, die ihr täglich Injektionen gibt, deswegen ebenso hängt wie ihr Sohn und die beiden weiteren Männer, die wiederum wegen ihrer Weiblichkeit alle an die Krankenschwester angekoppelt sind. So gibt es mehrere sich überschneidende Begegnungen, deren Berührung nicht selten zu Handgreiflichkeiten und Haßentladungen führt. In den gelegentlichen Helligkeitsmomenten, die den allgemeinen Dornröschenschlaf unterbrechen, wird jedoch nichts gelöst. Man versinkt sofort wieder in eine Starre, und die Hochzeit, die zwischen Sohn und Krankenschwester dennoch stattfindet, hebt die metaphysische Langeweile nicht auf. Das Hochzeitslied heißt denn auch que sera, sera...
Was im einfachen, naturalistisch gezeigten Milieu trotz Längen wegen seiner Typischkeit überzeugte, wird in dieser verallgemeinerten Dekadenz zu einem langweiligen Ausstattungs- und Theaterfilm. Die Gags der Kamera, wenn sie beispielsweise von unten durch eine Glasscheibe auf die Füße der Protagonisten blickt, die sich streitend ineinander verknäulen, oder von oben auf die Scheitel der sich wie Kampfhähne gegenüberstehenden Männer, sind preziöse Spielereien, in denen der Film zu reinem Formalismus degeneriert.
Bela Tarrs vorletzter Film Verdammnis von 1987 ist in seiner Verbindung von bis dahin entwickelten Strängen eine gelungene Synthese aus Dokumentar- und Spielfilmdramaturgie. Die Kamera hat jetzt was von der schwarzen Serie gelernt, sie ist detektivisch nach draußen getreten und hat die dunklen Räume entdeckt, sie kennt viele Verstecke, Gitter, beschränkte Blicke, sie muß sich ans Licht kämpfen, das immer noch ziemlich funzelig ist. Sie erhellt wie auf vergilbten Zeitungsausschnitten die Geschichte eines Mannes, der mit seiner Geschichte am Ende ist und der doch einer Frau begegnet, die ihn nochmals in eine Geschichte versetzt. In diesem Bergbaustädtchen, in dem aus jeder Ritze die Trostlosigkeit klafft, kann nur noch sie als erstes und letztes Objekt der Begierde irgendeine Bewegung auslösen; und da sie nicht zu haben ist, muß der Film sich fortsetzen und wird ein Verfolgungsgang. Hin zu einer Fleischerei auf dem Lande, in Bars und Tanzlokale, in Wohnung und Bett, der blonde Lockvogel voran. Der Begehrende ist ein bißchen der Begleiter des Stalker, ein heillos in die Welt geworfener Mensch. Aber bevor der Film allzusehr Parabel für die allgemeine Heilssuche wird, bindet der Regisseur die Kreuzwegstationen in ihr soziales Milieu zurück: in die Kneipen, in denen Zigeuner und Bergleute, Frauen und Kinder tanzen, in denen eine Zigeunerkapelle spielt. Und doch klingt die Musik wie ein Abgesang auf diese Welt. Die Bar heißt denn auch Titanic, sie scheint der Versammlungsort aller Ausgestoßenen der Gesellschaft zu sein. Wieder ist ein bißchen viel Metaphysik in der Cadrage, wenn sich all diese Elenden und Beladenen vor die Kamera wie vor den Almosenverteiler drängen, und in dem vielen Regen, der allzusehr der Spiegel des Spiegels wird. Und dennoch zeigt Tarr in seinen dunklen Bildern, in denen manchmal das Bild selbst fast verlöscht, die letzte Art und Weise, die allgemeine Filmunkunst zu untergraben durch Kunst.
Michaela Ott
Filme von Bela Tarr ab 8.12., 20 Uhr eine Woche lang im Arsenal.
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