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„Große Koalition der Vernunft“ für die DDR

■ In Ost-Berlin wird heute das zentrale Verhandlungsgremium für die Systemreform etabliert / Von Matthias Geis

„Deutlich mehr als ein Debattierclub“ soll der ab heute eröffnete runde Tisch in Ost-Berlin werden. Für die gebeutelte SED ist das Gremium möglicherweise die letzte Gelegenheit, sich dem Volk in konstruktiven Verhandlungen mit der Opposition als erneuerungsfähige Kraft zu präsentieren. Aber auch die neuen politischen Kräfte wissen, daß sie angesichts ihrer konzeptionellen Schwächen an der Kooperation mit der Partei und der Fachkompetenz der staatlichen Institutionen nicht vorbeikommen. Will die Opposition ihren Einfluß wahren, muß sie jetzt politische Mitverantwortung für die Bewältigung der Krise übernehmen.

Wenn sich heute im kirchlichen Karl Bonhoeffer-Haus in Ost -Berlin oppositionelle Gruppen und etablierte Parteien zur Eröffnung der Gespräche am runden Tisch treffen, ist alles anders als erwartet. Egon Krenz, der das parteiamtliche Ja zum zentralen Verhandlungsgremium aller relevanten politischen Kräfte gab, gehört bereits zu den Gestrigen. Die Zustimmung der Partei, die vor zwei Wochen noch wie unerwartete Großzügigkeit aussah, klingt heute schon wie ein Hilferuf; der Führungsanspruch der SED, ursprünglich als ein zentrales Verhandlungsthema benannt, ist mittlerweile auch formell ad acta gelegt. Dafür erwartet die Opposition, die den runden Tisch eher leidenschaftslos gefordert hatte, jetzt die politische Mitverantwortung für die Konsolidierung der politisch und ökonomisch schier ausweglosen Lage.

Eine offenere und unberechenbarere Ausgangssituation für die Eröffnung des runden Tisches wäre kaum denkbar. Die Partei, 40 Jahre Kern des politischen Systems der DDR, ist in Auflösung begriffen; der Druck der Bevölkerung und die neue Offenheit haben ein Ausmaß an Korruption, illegalen Geschäften und materieller Begünstigung der Führungskaste an den Tag gebracht, das alle Negativerwartungen übersteigt. Angesichts der jüngsten Enthüllungen ist die derzeitige Stimmungslage der Bevölkerung unkalkulierbar geworden. Daß die Verbitterung über die jahrzehntelange verlogene Unterdrückung doch noch in Gewalt umschlägt, ist nicht mehr auszuschließen. Mit Sicherheit wird die Forderung nach bedingungsloser Übergabe des abgewirtschafteten Landes an den Westen weiter an Popularität gewinnen.

„Koalition der Vernunft“

Mit der Krise konfrontiert sehen sich staatliche Institutionen, die gerade erst beginnen, sich ihre verfassungsmäßigen Rechte anzueignen. Demokratisch legitimiert sind jedoch weder die Volkskammer noch die gewählte Regierung - denkbar schlechte Ausgangsbedingungen, um die jetzt drängenden Reformprojekte durchzuführen. Vor diesem Hintergrund erlangt der runde Tisch unerwartete Bedeutung. Dafür spricht auch die Interessenlage der unterschiedlichen Kräfte: Zeigen sich Regierung und Parlament kooperationsbereit, könnten sie für die anstehenden Gesetzesänderungen und Maßnahmen gesellschaftliche Unterstützung gewinnen. Die Partei kann sich - wenn überhaupt - am ehesten noch in konstruktiven Verhandlungen mit der Opposition als erneuerungsfähige Kraft präsentieren. Die Opposition hingegen weiß, daß sie angesichts ihrer konzeptionellen Schwächen an der Fachkompetenz der staatlichen und parteidominierten Institutionen nicht vorbeikommt. Schon propagieren Oppositionelle, etwa der SDP-Geschäftsführer Böhme oder der heimliche Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs, Eppelmann, die „große Koalition der politischen Vernunft“, um die Weichen aus der Krise zu stellen.

Jeweils zwei Vertreter entsenden die neuen Gruppierungen und die etablierten Parteien in das Gremium. Für die Opposition verhandeln u.a. Ibraim Böhme für die Sozialdemokraten, Ulrike Poppe für Demokratie jetzt, Rechtsanwalt Schnur für den Demokratischen Aufbruch, Rolf Henrich und Reinhard Schult für das Neue Forum. Wen die SED an den runden Tisch schickt, ist noch offen. Die Kirche benennt drei Vertreter, die jedoch ausschließlich moderierende Aufgaben wahrnehmen wollen.

Die Partei hat sich im Vorfeld mit Aufgabenzuweisungen für den runden Tisch zurückgehalten. Über die ursprüngliche Themenstellung hinaus - Verfassungsänderung, Wahlrechtsreform und Durchführung freier Wahlen - drang nichts an die Öffentlichkeit. Auch die Vertreter der Opposition, die bis zuletzt an einer gemeinsamen Linie bastelten, hielten sich bedeckt. Dennoch lassen sich drei Varianten erkennen, mit denen der runde Tisch - geht es nach den Vorstellungen der oppositionellen Gruppen - Profil gewinnen könnte. Er soll „Eckpunkte“ für die Gesetzesänderungen erarbeiten, mit denen die Systemreform verankert wird: Grundlinien einer Verfassungs- und Strafrechtsreform, neue Wahl-, Medien- und Vereinigungsgesetze. Der runde Tisch soll als Kontrollorgan staatlicher Entscheidungen fungieren und Ad-hoc-Maßnahmen, wie etwa die Gewährleistung der Arbeitsbedingungen für die Opposition, durchsetzen. Zur Unterstützung des Gremiums sollen acht Fachkommissionen gebildet werden, die Vorschläge zu einzelnen Verhandlungsthemen ausarbeiten. Der Informationsfluß über regionale Problemlagen und Vorschläge wird über die „kleinen“ runden Tische in den Bezirken nach Berlin fließen. Wie das Verhältnis der bezirklichen zum zentralen Verhandlungsgremium geregelt wird, ist bislang offen.

Welche Kompetenzen das Gremium letztlich haben wird, ist während der Konstituierungsphase ebenfalls Verhandlungsthema. Die Vorstellungen reichen von einer unterstützend-beratenden Funktion für die derzeitige Regierung und Volkskammer über ein Vetorecht gegenüber staatlichen Initiativen bis hin zu Gesetzesentwürfen, die einer neu gewählten Volkskammer oder einer Volksabstimmung zur Entscheidung übergeben werden.

„Deutlich mehr als ein Debattierclub“ soll der runde Tisch aber schon werden. Doch weil das Gremium durch die Beteiligung der Opposition zwar mehr Glaubwürdigkeit als die alten Institutionen besitzt, gleichwohl aber nicht demokratisch legitimiert ist, kommt der Ausarbeitung eines Wahlgesetzes und der Durchführung von Wahlen in der ersten Jahreshälfte vorrangige Bedeutung zu. Doch bis zur Konstituierung eines gewählten Parlaments ist - so ein Oppositioneller - kein glaubwürdigeres Gremium in Sicht. Der runde Tisch müsse sich im jetzigen „Zustand der Anarchie“ Kompetenzen aneignen, ohne sie überzustrapazieren.

Hinter der Frage nach der Legitimität des runden Tisches steckt mehr als verfassungsrechtliches Unbehagen. Seitdem die demonstrative Einheit von Gesellschaft und den neuen politischen Kräften Vergangenheit ist und oppositionelle Redner bei Massendemonstrationen ausgepfiffen werden, ist unklar, wessen Vertretung die Opposition noch beanspruchen kann. Der runde Tisch könnte die Entfremdung zwischen den Gruppen und der Bevölkerung weiter vergrößern. Denn was die einen als „Koalition der Vernunft“ verstehen, kommt bei der aufgebrachten Bevölkerung möglicherweise als „Kungelei mit den Kompromittierten“ an. „Öffentlichkeit“ ist die Losung, mit der die Opposition diesem Risiko nun begegnen will.

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