: Auf, auf in die DDR
Die Folgen der Aufhebung von Visumpflicht und Zwangsumtausch für Reisen nach drüben ■ G A S T K O M M E N T A R E
Nun wird so mancher Bundesbürger, nachdem Visumpflicht und Zwangsumtausch aufgehoben wurden, sich seinen Traum verwirklichen und Urlaub in der DDR machen, im schönen Thüringer Wald, an einem stillen Mecklenburger See, auf Rügen oder im Vogtland. Den Besuchern in spe sind die Touristik-Manager schon vorausgeeilt, haben nun freigewordene Funktionärsvillen in bester Landschaftslage besichtigt, um demnächst die Reiseströme umzulenken: „Ferien im anderen Deutschland“ wäre wohl ein zugkräftiger Werbeslogan. Aber wohl niemand von den Bundesbürgern, die schon jetzt ihre Koffer vom Dachboden holen, um im Januar die ersten einer vorstellbaren Invasion zu sein, ahnt, daß der eigene Traum für die Deutschen drüben ein Alptraum sein könnte.
Ganz gewiß sieht man in der DDR dem künftigen Besucherstrom mit ziemlich gemischten Gefühlen entgegen. Denn während hier ein romantisierendes DDR-Bild in den Köpfen spukt, von abgelegenen, geruhsamen Dörfern, verschlafenen Kleinstädten, einsamen Wäldern und motorbootleeren Gewässern, denkt der DDR-Deutsche realistischer sofort an die Versorgung. Wo man selber kaum das Nötigste bekommt, wie wollen und sollen sich da die „lieben Gäste“ ernähren? Natürlich ist es dem Bundesbürger unbenommen, die trostlose Erfahrung des Schlangestehens am eigenen Leibe nachzuvollziehen, aber die Frage ist doch: Wird die Wirtschaft der DDR, Großhandel und Einzelhandel, die zu erwartenden Reisenden überhaupt einigermaßen ausreichend versorgen können? Wo schon der DDR -Bürger morgens keine Brötchen mehr bekommt, hat auch der Bundesbürger wenig Chancen. Ja, und wo soll er, von dem man erwartet, daß er Devisen ins Land bringt, sein Auto betanken? Die Anzahl der Tankstellen ist doch minimal. In welche Restaurants will er essen gehen, wenn es keine gibt, und wo sein müdes, ungeduldiges Haupt betten, wenn Hotels fehlen? Ich fürchte, der Horrortrip ist schon vorprogrammiert. Aber diese Probleme für die Bundesbürger sind der kleinere Teil des Gesamtproblems, das für den DDR -Bürger entsteht.
Nämlich: Wenn der Staat devisengierig, ihm die Bundesbürger vorzieht, bleibt für ihn kaum noch ein Ferienplätzchen übrig: Konnte er bisher für wenig Geld seinen Urlaub in Heimen und Hotels, ja, auch in Privatunterkünften verbringen, so wird er vielleicht, da man den Westmarkbesitzer bevorzugt, zu Hause bleiben müssen. Weil er aus Mangel an Mitteln weder nach Mallorca noch nach Sylt fahren kann und die heimischen Betten belegt sind, werden seine Gefühle gegenüber den „Brüdern und Schwestern“ aus dem Westen nicht gerade freundlich bleiben. Vorauszusehen ist jetzt schon, wie Westler mit Paketen voll Ostmark in die nahe Ferne reisen, um für die Einheimischen die Preise zu verderben; um ihnen den ohnehin dürftig ausgestatteten Mittagstisch gänzlich leerzufressen und um den „armen Verwandten“ erneut das Bewußtsein zu vermitteln, die allseits Betrogenen zu sein. Denn solange nicht das Wirtschaftsgefälle zwischen den beiden deutschen Staaten verschwunden ist - wofür es übrigens nur eine Lösung gibt, auch wenn sie manchem nicht zusagt -, werden die Deutschen der DDR immer wieder Benachteiligungen erleiden, die sie nicht verdient haben und deren Beendigung dringend erwünscht ist.
Günter Kunert
Der gebürtige Berliner gehört zu den Schriftstellern, die in der Folge der Biermann-Ausbürgerung 1976 die DDR verließen. Er lebt heute in Kaisborstel bei Schenefeld.
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