Die SED auf dem Weg zur Wahlkampfpartei

Heute abend beginnt der in aller Hast vorverlegte Sonderparteitag der SED / Der ZK-Apparat existiert de facto nicht mehr, viele Mitarbeiter sind schon arbeitslos / Viele fordern schon, auf die sozialdemokratischen Traditionen der bisherigen Einheitspartei zurückzugreifen / Auch ein Namenswechsel steht auf der Tagesordnung  ■  Von Peter Paul Dürr

In der DDR geht das Gespenst des Vakuums um. Im noch immer unnahbar wirkenden Gebäude des Zentralkomitees an der Spree, dem einstigen Zentrum der Macht, wird dieser Zustand deutlich: gespenstisch leere Flure, viele Zimmer versiegelt, einige Siegel aber bereits wieder erbrochen. Einige wenige Mitarbeiter huschen im Konsultationszentrum umher, das ursprünglich eingerichtet wurde, um die Sorgen und Nöte der Genossen und Bürger entgegenzunehmen.

Doch die sind augenscheinlich nicht gekommen, Ausdruck dafür, daß wohl kaum noch jemand vermutet, hier könne sein Anliegen „ergebnisorientiert“ bearbeitet werden. Die Anschrift des Zentrums birgt heute schon unfreiwillige Satire: Haus des ZK, Oberwasserstraße. Die alten Machtstrukturen sind bereits zerschlagen, die Posten vor den Häusern der ehemaligen Politbüromitglieder signalisieren nicht mehr „Eintritt verboten!“, sondern Hausarrest.

Das Zentralkomitee ist zurückgetreten, viele Mitarbeiter des Apparats haben Zwangsurlaub, weil sie nicht mehr in ihre Zimmer gelangen, ihre Akten beschlagnahmt wurden. Täglich erhalten viele hauptamtliche Funktionäre den Rat, sich beim Arbeitsamt zu melden.

Immer mehr Betroffene werfen ihre Parteibücher hin, sie wissen nur nicht mehr wem. Diese Stimmung müssen einige aus dem inneren Führungszirkel der SED antizipiert haben, als sie sich am Donnerstag entschlossen, den ursprünglich für Ende nächster Woche angesetzten Sonderparteitag vorzuziehen.

Freitag abend werden sich die Delegierten im Palast der Republik einfinden, um als erstes eine neue Führung zu wählen. Dann gilt es zu entscheiden: sofortige Fortsetzung der Beratungen mit der Diskussion des Berichts des Arbeitsausschusses, den Vorsitzender Kroker erstatten soll, oder Vertagung bis zum ursprünglich gesetzten Termin oder als dritte Möglichkeit - Verschiebung des Termins über die Weihnachtsfeiertage hinaus. Vieles spricht dafür, daß sich die Genossen für rasches Handeln aussprechen werden.

Die Aufgabe des Parteitags ist klar: radikaler Bruch mit der stalinistischen Vergangenheit und eine „radikale, von der Basis ausgehende Neuformierung der SED zu einer modernen sozialistischen Partei, die dem demokratischen Sozialismus verpflichtet ist“ ('Neues Deutschland‘). Immer deutlicher wird auch das Bemühen, die sozialdemokratischen Traditionen der Sozialistischen Einheitspartei wieder stärker herauszuarbeiten.

In diesem Sinne veröffentlichte die 'Berliner Zeitung‘ gestern einen Beitrag, in dem es nicht von ungefähr heißt: „Zweitens ist an die sozialdemokratischen kommunalpolitischen Erkenntnisse anzuknüpfen, die auf jahrzehntelangen Erfahrungen beruht und die die SPD in die SED einbrachte.“

Die Wahlkampfpartei beginnt sich zu konturieren. Der Bürgermeister von Ribnitz-Damgarten, Peter Warnke, schrieb im 'Neuen Deutschland‘, es falle an diesem Tag außerordentlich schwer, den Kopf oben zu behalten. „Ich bin erschüttert. Dennoch muß es weitergehen. Wir Kommunalpolitiker müssen einzig und allein die Interessen unserer Bürger im Auge haben.“

Ihm sekundiert ein Wissenschaftler auf der gleichen Zeitungsseite mit der Feststellung, fortan sollte das Einende für die Partei nicht ein starres Organisationsprinzip sein, sondern sozialistische Grundwerte, „die für die Mitglieder orientierend sind und für deren Umsetzung die neue SED in Wahlkämpfen und in Aktionsprogrammen eintritt“.

War noch am vergangenen Wochenende bei den Kreisdelegiertenkonferenzen ein deutlicher Dissens in der Frage Neugründung einschließlich eines Namenswechsels zu spüren, so scheint inzwischen eine Mehrheit zu diesem Schritt bereit. Ex-Politbüromitglied Herbert Häber, der in einer Sendung des Jugendfernsehens elf 99 Hintergründe seiner Absetzung durch Honecker vor vier Jahren enthüllt hat, sprach bereits von einer „demokratisch-sozialistischen Volkspartei oder mit einem anderen Namen“.

Häber ging noch weiter, indem er forderte, daß die neue Partei künftig nicht mehr von einem Zentralkomitee und einem Politbüro geführt werden solle. Das seien Prägungen aus stalinistischer Zeit. „Man muß einen völlig neuen Weg gehen. Das ist meine Meinung“, so der damals kaltgestellte ZK -Sekretär.

Diese Tendenz ist auch dem unterdessen veröffentlichten Positionspapier des 25köpfigen Arbeitsausschusses zu entnehmen, in dem es heißt, die SED sei verantwortlich für die tiefste Krise in der Geschichte der DDR.

Bislang beschränkte sich diese Aussage lediglich auf die Führung der SED. Nur der radikale Bruch sei Gewähr dafür, daß die Mitglieder, die sich für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft einsetzen, eine neue politische Heimat finden.

In der 'Berliner Zeitung‘ stellten gestern Wissenschaftler von der in letzter Zeit ins Abseits geratenen Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED ihren Entwurf eines neuen Statuts vor, der allerdings deutlich hinter gleichartigen Vorschlägen von der Parteibasis des Berliner Werks für Fernsehelektronik und der Humboldtuniversität zurückbleibt.

Warum die Zeit drängt und der Sonderparteitag ungeachtet aller organisatorischen Schwierigkeiten um eine Woche vorverlegt werden mußte, macht einer der Initiatoren der ersten Plattform in der SED-Geschichte, Robert Kreibig, Parteisekretär im Werk für Fernsehelektronik Berlin, deutlich: Die Rettung der Partei liege in ihrer kompromißlosen Erneuerung, die einer Neugründung gleichkomme. Ein halbherzig geführter Parteitag führe zur Spaltung.