Kallinchen gegen den Rest der Welt

■ Zwischen Papierschlangen und bunten Luftballons diskutierten am Donnerstag 200 BürgerInnen des Dörfchens Kallinchen bei Berlin die Verseuchung ihres Grundwassers

Papierschlangen hängen von der Decke, Lampions und bunte Luftballons: „Kallinchen Helau“. Das steht in großen Buchstaben an der Stirnwand des Saals im „Alten Krug“ des märkischen Dorfes. Hier tagt regelmäßig der örtliche Karnevalsclub der 484-Seelen-Gemeinde, hier schwingt Büttenredner Till lose Reden.

Doch an diesem Donnerstag abend ruft hier keiner „Helau“. Nicht nur den etwa 200 Besuchern der Gemeindevertreterversammlung, unter denen auch Besucher aus den Nachbardörfern Schöneiche und Gallun sind, ist der Spaß vergangen, sondern auch der Phalanx aus Behörden- und Firmengrößen auf dem Podium.

Olaf Hikel von der Staatlichen Gewässeraufsicht in Mittenwalde hat gerade eingeräumt, was die Kallinchener, Galluner und Schöneicher bisher nur vermuten konnten und was die Behörden bisher geflissentlich verschwiegen hatten: Aus den Mülldeponien, zwischen den drei Dörfern gelegen, sickern giftige Abwässer in das Grundwasser, aus dem die Dörfler ihr Trinkwasser pumpen.

Eben hatte ein Vertreter der Potsdamer Bezirksbehörden noch das Gegenteil behauptet. „Meines Wissens“, hatte Bezirksrat Rößiger erklärt, ist „aus diesem Deponiekörper zur Zeit keine Belastung bekannt“. Jetzt wissen es alle besser. Kallinchen Helau.

Im Saal bleibt es still. Die Dörfler brauchen Zeit, um die Nachricht zu verdauen. Doch der Bürgermeister, nach eigenen Worten „noch im Amt“, gerät schon in Panik. Horst Straube, ein sächselnder, kleinwüchsiger SED-Mann, versucht, mit Publikumsbeschimpfung zu retten, was nicht mehr zu retten ist: Sieben Brunnen im Dorf hätten doch deshalb geschlossen werden müssen, weil der Dreck aus den eigenen Fäkaliengruben ins Wasser gesickert sei. Der eigene Müll, der im Wald abgeladen wird, das sei doch „noch schlimmer“. Norbert Gambiewski von der Direktion des VEB Deponien Potsdam argumentiert ähnlich: Das „Einzugsgebiet“ sei ja „vom Grundsatz her schon kontaminiert“.

Der Deponiedirektor versucht, die Bewohner von Schöneiche und Kallinchen zu beruhigen: Die Grundwasserfließrichtung verschone ihre Dörfer von den Deponieabwässern. Die Bürger müssen den Schluß selber ziehen: Das Gift sickert Richtung Gallun.

Immer noch bleibt es still, immer noch bricht kein Proteststurm los. Endlich steht Hanna Matthes auf, die Bürgermeisterin von Gallun. „Sehr in Sorge“ sei sie, formuliert die Bürgermeisterin von 500 Gallunern mühsam. Warum hat sie jetzt erst erfahren, daß ihr Trinkwasser Wasser ist, „das wir nicht mehr genießen können“?

Empörung hatten die Bürger vorher schon abgelassen. „Verarscht“ habe man die Kallinchener seinerzeit, als ihnen 1974 eine sichere Deponie versprochen worden sei. Denn das Gemeindeparlament hatte die Westmüll-Deponie nur genehmigt, weil ihm die Erfüllung von Auflagen versprochen wurde: Die Deponie sollte unten abgedichtet werden, und das Sickerwasser sollte erfaßt und behandelt werden. Erfüllt wurden diese Auflagen freilich nicht, das erfahren die Dörfler spätestens an diesem Abend. „Durchgedrückt“ habe die Regierung das Genehmigungsverfahren, schimpft ein Bürger.

Ulrich Wolter vom Umweltschutz-Aktiv des Gemeindeparlaments hat sich für diesen Abend vorbereitet: Zusammen mit den Umweltgruppen in Schöneiche und Gallun legt er eine Beschlußvorlage vor. „Mit sofortiger Wirkung“ soll nur noch Westberliner Müll abgekippt werden, kein westdeutscher Abfall mehr; zum 31.12.1994 sei die Westmüll-Deponie ganz zu schließen und bis Ende 1997 erwarten die Umweltschützer eine Sanierung der Deponie, die West und Ost gemeinsam in Angriff nehmen sollen. Eine Strafanzeige gegen die Verantwortlichen fordert Wolter und den Rücktritt des Umweltministers Reichelt, der die Deponie 1974 genehmigt hatte.

Nun wird Eberhard Seidel auf dem Podium nervös. Er, stellvertretender Direktor der Ostberliner Müll -Handelsgesellschaft Intrac, hatte die Idee einer Westberliner Sanierungshilfe eben noch gelobt. Aber die Aufkündigung westdeutscher Müllimporte, das sei rechtlich nicht möglich, das sei ein „Weg, der nicht rechtens ist“. Doch eine Kallinchenerin erinnert sich an den Karneval 1974: Da sei es dem Büttenredner Till auch verboten worden, über den Müll zu reden, weil damit „in internationale Verträge eingegriffen würde“.

Damals ist Gemeindevertreter Wolter von den Behörden betrogen und belogen worden. Mittlerweile ist es halb zwölf, und die Gemeindevetretung ist nicht mehr beschlußfähig. Aber auf der nächsten Sitzung, das ist klar, kommt der Beschluß durch. Noch einmal läßt sich Kallinchen nicht einwickeln.

hmt