: „Alle mißtrauen einander“
Ein Gespräch mit dem chilenischen Sozialpsychologen Dr. Hektor Faundez ■ I N T E R V I E W
Dr. Faundez ist Mitarbeiter im Projekt „Anklagen und Ermittlung von Menschenrechtsverletzungen, Behandlung von Folteropfern“, das von Terre des hommes, der UNO und dem Diakonischen Werk finanziert wird.
taz: Die Diktatur hat die chilenische Gesellschaft von Grund auf verändert. Die chilenischen Militärs hatten ein eigenes „historisches Projekt“, basierend auf der Doktrin der Nationalen Sicherheit. In einer Erklärung der Junta vom März 1974 sprechen sie klar ihr Ziel aus: den „sozialen und moralischen Wandel der Mentalität der Chilenen“. Haben sie ihr Ziel erreicht?
Dr. Faundez: Ja, im individuellen und sozialen Bereich gab es einen Werte-Wandel mit neuen Identifikationsfiguren. Wir hatten immer eine vielfältige politische Tradition, mit geringem Analphabetentum, großer Beteiligung des Volkes und Respekt vor Minoritäten. Die politische Gewalt gehörte nicht, wie vielleicht in anderen Teilen des Kontinents, zum Alltag. Dies ging in den vergangenen 16 Jahren verloren. An die Stelle der Solidarität trat der Individualismus einer Ellenbogengesellschaft. Das Konsumdenken hat die ganze Gesellschaft umfaßt, auch diejenigen, die keinen Zugang zum Konsum haben. Korruption gab es früher kaum. Unser Land ist ja nicht so reich wie etwa Argentinien, in der Landwirtschaft zum Beispiel bedurfte es stets der doppelten Anstrengung. Es zählte die Arbeit mit den eigenen Händen. Heute träumt man von der Spekulation und vom schnellen Dollar. Die Chilenen waren ein lebendiges Volk. Als ich vor fünf Jahren aus dem Exil zurückkehrte, fiel mir zuerst die Friedhofsruhe auf, das Sich-Verstecken. In der U-Bahn blicken die Leute schweigend auf den Boden, in den Cafes wird nicht offen diskutiert. Man drückt sich nicht klar aus sondern redet in allgemeinen Begriffen von „Räumen“ und „Instanzen“. Alle mißtrauen einander. Wir Chilenen haben gelernt, nur noch dem Mißtrauen zu trauen.
Diese Vorsicht beruhte ja auf konkreten Erfahrungen.
Neben der Superausbeutung und der extremen Armut war stets der Tod präsent. Das Ergebnis ist das fehlende Bewußtsein über die eigenen politischen und sozialen Rechte. Früher verstanden wir unter einer „würdigen Wohnung“ fließend warmes Wasser, Heizung, Strom und vielleicht einen kleinen Patio; wenn wir heute die Leute fragen, antworten sie: ein fester Fußboden. Früher hätte kein Chilene einen Polizisten ohne Durchsuchungsbefehl in die Wohnung gelassen; heute fragen sie gar nicht erst danach. Wenn wir die Patienten fragen „Seid ihr gefoltert worden?“, verneinen die meisten, wenn sie nicht gerade vergewaltigt oder mit Elektroschocks maltraitiert worden sind; Prügel, Schlafentzug, Kapuze, Erniedrigung empfinden sie nicht mehr als Folter.
Das lang ersehnte Ende der Diktatur steht bevor, ein Ende, für das viele im antifaschistischen Kampf ihr Leben ließen. Der rechte Christdemokrat Patricio Aylwin leitet - praktisch von oben - die neue Demokratie ein, eine Demokratie, die von den Militärs überwacht sein wird, die das Wirtschaftsmodell weiterführen und wahrscheinlich alle Menschenrechtsverletzungen amnestieren wird. Wie empfinden Sie diesen Übergang?
Es ekelt mich. Es zerreißt mir das Herz, daß sich die Menschen der Zukunft verschließen und Utopien und Hoffnungen verneinen. Sie geben sich ihrer Erschöpfung hin. Und dann sind da diese „neuen Demokraten“, die 16 Jahre lang den Militärs applaudiert haben und sich plötzlich als Demokraten verkaufen. Ihr offener Zynismus verursacht Brechreiz. Ich spüre unsere Unfähigkeit, denn uns fehlt die soziale Kraft.
Interview: Gaby Weber
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