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Wende und Wahn - auf dem Weg

■ Vom Schutzwall befreit ist die DDR-Psyche nicht in die Tiefen der Depression gestürzt / Am 10. November 1989 war in den psychiatrischen Ambulanzen Ost-Berlins "alles leer" / In den Therapien wird die...

Freitagabend im Charite-Krankenhaus, neurologisch -psychiatrische Abteilung. Die Gänge sind lang, sauber und linoleumglatt. „Wir alle sind - wie soll ich sagen? - leicht aus den Angeln gehoben“, sagt eine Stationsärztin mit Injektionsnadel am Revers. „Wir“ sagt sie, als habe der symbolische Fall der Mauer, nur wenige Meter von der Charite entfernt, die Gewißheiten von Psychiatern und Patienten gleichermaßen erschüttert.

„Am 10. November war hier in der Psychiatrie alles leer“, sagt die Ärztin. Kein einziger Fall von Depression in der Ambulanz, als an den Checkpoints die Menschen schrien: „Is‘ ja Wahnsinn!“ und ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen wollten.

Eine Zeitlang sei, so berichtet eine andere Internistin der Station, die Zahl der Psychosen „eindeutig weniger“ gewesen. Am 7. Oktober habe es angefangen, als die Leute merkten, es tut sich was. Die „Mauerkrankheit“ ging mit einemmal zurück, mit all den Symptomen - Appetitlosigkeit, Magenbeschwerden und dem „mein Herz tut weh“ - die Müller-Hegemann, Arzt und Parteisekretär aus Leipzig, in Depression im Schatten der Mauer beschrieben hat. Der Professor habe, seufzt die Ärztin, inzwischen selbst rübergemacht und lebe im sonnigen Philadelphia. „Tja“, sagt sie.

Mittlerweile hat die euphorisierende Wirkung der „Go West„ -Droge etwas nachgelassen, und die Psychosenquote hat sich in der Charite wieder auf ihr normales Maß eingependelt. Dennoch ist auch in der Psychiatrie nichts mehr so wie früher: „Die Patienten sind verunsichert. Mit einemmal ist alles so frei. Sie brauchen das Gespräch.“ Die Mauern der Charite sind durchlässiger geworden. Während „früher“ über Schlaflosigkeit und sonstige Beschwerden geredet wurde, wird jetzt zum Beispiel über das Krenz-Interview im ARD gesprochen. „Wir müssen darüber sprechen, weil die Patienten Angst haben.“ Angst? „Wir DDR-Bürger sind anders programmiert als Sie“, meint die Internistin. „Unsere Patienten fürchten, daß der Sozialstaat abgebaut wird. Das trifft die psychiatrischen Fälle am meisten.“ Der Therapeutin hilft dann nur die eigene Überzeugung weiter, die eigene Hoffnung, daß die DDR - mit oder ohne Führung der Partei - den Weg aus der Krise finde. Keine leichte Aufgabe. „Es hat mich traurig gemacht, daß mir das alles so viele Jahre vorenthalten wurde. Du kamst dir so grau und tot vor. Eine Frechheit ist das!“ Einen Moment lang ist sie laut geworden, die Ärztin.

Die SED als Patient

Die Charite hat sich verändert. Wo Robert Koch einst dem Milzbrandbazillus auf die Schliche kam, haben sich in den letzten Wochen subversive Papiere ausgebreitet, Zeichen, daß eine Gesellschaft beginnt, sich selbst an die Hand zu nehmen und die Autonomie zu erproben. Ein Schwesternbund erklärt sich auf einem schwarzen Brett, „unabhängig von allen staatlichen Organisationen“, ein Sozialistischer StudentInnen Bund meldet sich zu Wort und kritische Zahnärzte veranstalten ihr erstes „Meeting“. Und selbst in die kargen Gänge der psychiatrischen Abteilung hat sich eine Karikatur geschlichen. Ein SED-Funktionärsfossil ist da zu sehen, wie es auf der Couch liegt: “...und das seltsamste ist, Herr Doktor, ich habe alles vor dem 18. Oktober vergessen.“

Noch muß die Emanzipation sich auf Sündenböcke stützen. Dabei hat die SED, eine Partei, die vierzig Jahre lang über Wahr und Falsch, Gut und Böse entschied, ihre Fehlbarkeit eingestanden und ist zum Patienten geworden. Und keineswegs nur symbolisch. In wohl jedem Kreis haben sich Funktionäre krank gemeldet. Mindestens drei Kreissekretäre sollen sich nach der Wende das Leben genommen haben - ob aus Identitätsverlust oder aus Furcht vor Repressalien, weiß niemand. Ende November erschoß sich der Vize-Präsident des Sportbunds, Franz Rydz. In seinem Büro waren 291.000 D-Mark gefunden worden.

Wendehälse sind beweglich

An der Invalidenstraße steht denn auch das „Regierungskrankenhaus“. Diplomaten, verdiente Veteranen und die Angestellten der Staatsregierung werden hier behandelt und gepflegt. Nur die ganz hohen Tiere haben noch in Buch ihre Spezialklinik. Dr. Eisenberg ist Kardiologe und Direktor des Regierungskrankenhauses. „Seit der Wende hat es in meiner Klinik keinen Selbstmordversuch gegeben“, wehrt er sich gegen die Gerüchte. Natürlich gebe es mittlere Regierungsangestellte, für die mit der Fortsetzung nächste Seite

Mauer eine Welt zusammengebrochen sei und die jetzt mit depressiven Symptomen zu ihm in Behandlung kämen. Aber dies sei „eine temporäre Erscheinung“, die sich geben werde, sobald „die Gedanken neu geordnet“ seien. „Unsere Aufgabe als Arzt ist es jetzt zu helfen, nicht den Richter zu spielen. Man kann den Leuten, wenn sie als Patienten kommen, nicht moralische Vorwürfe machen.“

Zu einer massenhaften psychischen Erkrankung infolge des Wahrheitsverlustes scheint es jedenfalls in der Parteinoblesse nicht gekommen zu sein. Waren alle insgeheim Reformer? Oder liegt es an der Anpassungsfähigkeit der Genossen? „Wer sich im alten Regime anpassen konnte“, meint eine Empfangsschwester, „der wird es auch im neuen können.“ Wendehälse sind beweglich.

Dr. Eisenberg ist keiner von ihnen. Er kennt den Westen und bleibt aus Überzeugung im Lande, weil er den antifaschistischen Widerstandskämpfern helfen möchte, die in der Klinik behandelt werden. Thälmanns Tochter gehört zu seinen Patienten. Die alten Genossen, sagt er, hätten „die Entwicklung in der Partei mit kritischen Augen verfolgt und gesehen, daß innerparteiliche Kontrollmechanismen nicht griffen. Jetzt machen sie sich Vorwürfe, daß sie aus falsch verstandener Disziplin geschwiegen haben und an der gegenwärtigen desolaten Situation Mitverantwortung tragen.“ Die alten Kommunisten verständen es auch besser, zwischen Inhalt und Durchführung einer Idee zu unterscheiden.

Der Verlust von Gewißheiten wird hier durch alte politische Überzeugungen ausgeglichen. Dieser Selbstschutzmechanismus scheint allerdings nur bis zu einer gewissen Rangebene zu greifen. Die spärlichen Berichten, die aus der zum „Internierungslager“ (Kurt Hager) gewordenen Waldsiedlung Wandlitz dringen, legen nahe, daß die Honecker-Generation den neuen Entwicklungen ebenso hilf- wie verständnislos und ohne jede Selbstkritik gegenüberstehen.

Real existierendes Ego

Das mehrt den Haß all jener, die sich in den Schaufenstern des Westens als um Lebenszeit Betrogene gespiegelt sehen. Kann eine Gesellschaft es verdauen, wenn ihre Mitglieder zu Hunderttausenden in den Westen fahren und sich massenhaft „grau und tot“ vorkommen und gleichzeitig die Staatspartei zu keiner Identifikation mehr einlädt? Schräg gegenüber dem Regierungskrankenhaus liegt am Robert-Koch-Platz, in der vierten Etage eines überaus depressiven Hinterhofs das „Institut für forensische Psychologie und Sozialwissenschaft“.

Sein Leiter, Professor Reiner Werner, ist kein Wendecharakter, sondern jemand, der seit jeher schrieb und dachte, was er für richtig hielt. Gegen erhebliche Widerstände publizierte er 1987 das erste Buch über Homosexualität und veröffentlichte kürzlich Schwierige Charaktere, eine Art phänomenologischer Schmetterlingssammlung, in der all die - für den Sozialismus unverzichtbaren! - Käuze und Querköpfe gesammelt sind, die Prof. Werner in Jahrzehnten therapeutischer Praxis untergekommen sind. Werner ist SED-Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des Kulturbunds, und er kennt sich in der politischen und sonstigen Befindlichkeit der Hauptstadt bestens aus. Der Professor diagnostiziert ein real existierendes Selbstbewußtsein in der DDR: „Ich glaube, es wird manches falsch gesehen. Natürlich schafft eine deformierte Gesellschaft - und das waren wir - deformierte Menschen, eine schizoide Angst. Die Leute waren schweigsam und haben sich ihre Nischen gesucht: die Datschen, das Ausweichen in die Einsamkeit des Wochenendes - das hängt mit dieser schizoiden Angst zusammen.“

Aber die Deformation hat - anders, als mancher im Westen es vermutet - nicht zur Krankheit geführt. Beweis? Die deutsch -demokratische Herbstrevolte: „Wie sollte ein Land von Kaputten zu solch einer erstaunlich disziplinierten und gewaltfreien Bewegung fähig sein? Nach einer psychoanalytischen Grundregel hätte auf die Frustration der Ausgrenzung Aggression und Gehemmtheit folgen müssen. Genau die hat es nicht gegeben.“ In ihren Nischen seien die DDR -Bürger Leute im Wartestand gewesen, sagt Werner, und keineswegs nur auf das umgekehrte Spiegelbild BRD fixiert, das ihm die Fernsehkästen zeigten: „Ich glaube, in diesem Land haben sich andere Werte herausgebildet, andere als in der veräußerlichten Welt des Westens.“

Depression und Aggression

Professor Werners Optimismus, daß eine mauer- und vaterlose DDR durch ihre Nischen stabil genug geworden sei, scheint auf einen Teil der Bevölkerung zuzutreffen. Die DDR ist nicht in eine kollektive Depression verfallen, nachdem sie ihren Schutzwall verloren hat. Im Gegenteil. Die Familien und Eheberatungsstelle im Berliner Bezirk Lichtenberg meldet: „Alles ist ruhig“, weil sich Partnerschaftsprobleme im Medium des Konsums für eine Zeitlang auflösen. Nur die Angst vor einer Zunahme von Aids- und Drogenfällen mache sich bemerkbar. Manche Eltern sehen ihre Kinder schon auf dem Westberliner Babystrich Devisen anschaffen.

In der Alkoholiker- und Suchtkrankenstation der psychiatrischen Klinik Lichtenberg hat es zwar Rückfälle gegeben, als mühsam trockengelegte Trinker in der Nacht des 9. November mit Schampus an der Grenze begrüßt wurden, doch habe der Wegfall der Grenze sogar therapeutische Effekte: „Was sonst in den Gesprächsgruppen mühsam war und klemmte, ist leichter geworden. Bisher ließ sich der Patient alles sagen und schwieg. Jetzt hat sich die Gruppe gegenüber dem Therapeuten emanzipiert“, berichtet Dr. Mucha, der Leiter der Station. Seine These ist derjenigen Werners genau entgegengesetzt. Durch den Schock der Wende sei latente Depression in Aggression umgeschlagen. Aggression gegen die Ärzte und Aggression gegen die da oben: „Die Menschen fühlten sich nicht für voll genommen vom Staat, als Kinder behandelt. Jetzt sind sie eingeschnappt und verweigern den Dialog.“

Wohin sich diese Aggression wenden kann, wenn sie nicht im Konsum ertränkt wird und die DDR-Bürger „keine Alltagsmechanismen finden, an die sie glauben und in die sie sich einbringen können?“, wie Prof. Werner es formuliert. Die Frage ist offen und macht den neuen Gruppen Sorge.

Doch noch genügt ein Gang durch die Städte, um sich von ziviler Aggression ein Bild zu machen, wie sie in diesen Tagen Alltag geworden sind: Fußgänger lassen sich von roten Männchen nicht mehr den Gang über die Leipziger Straße verwehren; biedere Matronen maßregeln den Mitropa-Kellner, statt ihren kalten Broiler stumm in sich hineinzustopfen. Die DDR im 41. Jahr: kein krankes, aber ein gekränktes Land.

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