: CSSR: Die fröhliche Kulturrevolution
Frauen sind die Träger der Revolution in Prag / In der Filmhochschule, dem „Hauptquartier“, arbeiten die Studentinnen Tag und Nacht ■ Aus Prag Irene Hanappi
Ein richtiger Filmproduzent, hat ihr Vater immer zu ihr gesagt, muß englisch sprechen, Tennis spielen, Auto fahren und telefonieren können. Ob Mariana (18) alle Bedingungen bereits erfüllt, bleibt offen. Und englisch jedenfalls spricht sie perfekt. Seit die „Famu“, die Filmhochschule Prag, zum Hauptquartier der Revolution wurde, dolmetscht sie bei Interviews, übersetzt Briefe, macht Küchendienst und spielt den Zerberus am Tor.
Als erste Frau ist es ihr gelungen, direkt nach dem Gymnasium, ohne sonst üblichen Praxisnachweis, in die renommierte Schule aufgenommen zu werden. Unter den 350 StudentInnen gibt es nicht viele weibliche Kollegen und auch im Streikkomitee fehlt die im Westen bereits zur Institution gewordene Alibifrau.
Im ersten Stock in der Abteilung „Filmproduktion“ sitzen Mike, Helena und Jitka vor dem Fernseher. Jetzt flimmert gerade ein westlicher Videoclip über den Schirm. „Die Medienverantwortlichen haben derlei Dinge rasch im Ausland eingekauft, um die Jugendlichen davon abzuhalten, auf die Straße zu gehen“, berichtet Mariana. „Das tschechische Fernsehen ist schlecht, wir werden alles verändern“, kommentiert sie. Im starken Kontrast dazu steht das Video, das Famu-StudentInnen von den Ereignissen am 17. November drehten. Ein kreischendes Knarren begleitet die Bilder prügelnder Polizisten und auffahrender Tanks.
Einen Tag nach diesen Ereignissen sollte in der „Damu“, der Hochschule für darstellende Kunst, eine Theaterpremiere stattfinden. Stattdessen wurden auf der Treppe Kerzen entzündet und Blumen gestreut. Seitdem wird gestreikt. Professoren und Schauspieler schlossen sich sofort an. Sie fordern: Bildung einer neuen Regierung, Einführung des Mehrparteiensystems, sie wollen das genaue Datum der angekündigten freien Wahlen wissen, sowie die Namen derer, die für den Einsatz vom 11. November verantwortlich waren. Drei Tage bleiben noch bis Montag, dann ist die Frist abgelaufen - sind die Forderungen nicht erfüllt, folgt der Aufruf zum Generalstreik. StudentInnen der Famu dokumentieren nicht nur die Ereignisse der letzten Tage und Wochen, sondern machen sich auch daran, Archivmaterial aufzuarbeiten. Leute, die nach 1948 oder 1968 nicht mehr zu Wort gekommen sind, äußern sich nun vor den Kameras der StudentInnen. MedizinerInnen kommen, um die weißen Flecken im Gesundheitssystem aufzuzeigen, andere wagen sich endlich an die vernachlässigte Umweltproblematik heran.
Das alles ist dann in den Straßen Prags zu sehen und soll als Anschauungsmaterial in den Diskussionen mit den ArbeiterInnen dienen. Werden sie auch diesmal mitmachen? Auf die StudentInnen der Damu verfolgen die gleiche Strategie wie die MedizinerInnen. Gingen sie früher an die Maschinen, um die ArbeiterInnen zu überzeugen, so werden sie heute eingeladen, bei den Meetings zu sprechen. Im Koordinationszentrum der der Damu, einem ehemaligen Tanzsaal, wehen vor den Fenstern Transparente, das Klavier ist übersät mit Zetteln, Zeitungen und sonstigem Papier. Auf der Bühne liegen Schaumgummimatratzen und Schlafsäcke, auf den Tischen Medikamente, mehrere Radios und ein paar Orangen. Viele der AktivistInnen sind krank geworden. Angina und Grippe gehen um.
Auf einer Wandtafel heftet eine blonde Frau die Termine für den morgigen Tag an. Zwei bis drei Leute werden in den frühen Morgenstunden losfahren. Die, die zurückbleiben, schaffen die Infrakstruktur, von der die Streikbewegung zehrt. Da ist zum Beispiel die Telefonzentrale. Katja, Maria und Jana machen rund um die Uhr Dienst. Auf die Frage, warum nur Frauen am Telefon sitzen, antwortet Petr, ein angehender Schauspieler: „Das hat sich mehr bewährt. Sie halten mehr aus. In der ersten Woche, als die Burschen schon am Boden lagen, haben die Frauen hier die Stellung gehalten. Sie arbeiteten alle vier gleichzeitig rund um die Uhr, mit höchstens zwei bis drei Stunden Schlaf.“ „Ein Gehirn ohne Magen funktioniert auch nicht“, wirft ein anderer ein. Eine Anspielung darauf, daß auch der Küchendienst fest in weiblicher Hand ist. Ein Plakat in der Kantine fordert: „Freie Presse und freie Liebe!“ „Das ist nicht ernst gemeint“, fügt Rita hinzu, kaum daß sie die Losung übersetzt hat. „Das ist nur des Reimes willen“, schreit einer. „Wird noch praktiziert“, ruft eine weibliche Stimme aus dem Saal. Dann setzt Lanka, die zukünftige Puppenspielerin, den Schlußpunkt unter die Diskussion: „Sex war, ist und wird sein. Aber jetzt streiken wir!“
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