: Die lange Nacht der SED hat begonnen
■ Sonderparteitag in Stasi-Sporthalle eröffnet / Frühere Politbüro-Mitglieder Stoph, Mielke, Kleiber und Krolikowski verhaftet Haftverschonung für Honecker und Axen / Keiner will den Parteivorsitz / Modrow warnt vor Spaltung, Gysi wirbt für „dritten Weg“
Berlin (dpa/taz) - Die ganze Nacht hindurch sollte der Sonderparteitag der SED tagen - was der Morgen bringen würde, war nicht abzusehen, noch weniger, ob es noch ein Morgen geben wird. Zum ersten Mal tagt die Partei nicht mehr im Palast der Republik, sondern in einer abgelegenen Sporthalle des Fußballklubs Dynamo in Hohenschönhausen ehemals die Vereinsmannschaft des Stasi.
Während sich die ersten der 2.700 Delegierten gestern abend dort einfanden, wurde die alte Parteiprominenz festgenommen: Den früheren Politbüromitgliedern Erich Mielke, Willi Stoph, Günther Kleiber und Werner Krolikowski wird vorgeworfen, durch Korruption und Amtsmißbrauch die Volkswirtschaft „schwer geschädigt und sich persönlich bereichert“ zu haben. Die Haftbefehle gegen den schwer erkrankten Erich Honecker und Hermann Axen, der sich zu einer Augenoperation in Moskau aufhält, sind ausgesetzt worden. Die Häuser der Beschuldigten wurden vom Generalstaatsanwalt durchsucht.
Zu Beginn des Parteitags, der vom DDR-TV live übertragen wurde, warnte Ministerpräsident Modrow vor einer Spaltung und rief: „Macht die SED sauber und stark“. Im Namen des Arbeitsausschusses kündigte Gregor Gysi das Ende des zentralistischen Sozialismus an und forderte einen „dritten Weg“ jenseits monopolistischer Herrschaft. Erwartet wird eine Satzungsänderung, durch die ein Parteivorstand die bisherigen Gremien Politbüro und Zentralkomitee ablösen soll. Völlig ungeklärt ist, wer die „im Moment kopflose“ SED, so Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, in Zukunft lenken wird. Berghofer erklärte, er sei bereit, eine Funktion in der neuen Leitung zu übernehmen, allerdings nicht die des Generalsekretärs.
Der XII. Parteitag wird sich auch mit den Beschlüssen des Runden Tischs beschäftigen, der gestern früh zu Ende ging. Die Teilnehmer der Gespräche hatten unter anderem die Auflösung der Staatssicherheit und Wahlen für den 6. Mai 1990 vorgeschlagen. Größte Sorge aller Teilnehmer am runden Tisch ist die Kanalisierung der Bewegung auf den Straßen und die Verhinderung von Gewalt. Erst am Freitag war bekannt geworden, daß sich ein Stasiangehöriger in Suhl während einer Bürgerbegehung durch das Neue Forum erschossen hatte. Volkskammerpräsident Günther Maleuda hat der Nationalen Volksarmee versichert, das Parlament werde alles unternehmen, um zur Herstellung der notwendigen Ruhe, Besonnenheit und Ordnung beizutragen. Es dürfe nicht zugelassen werden, daß Kräfte, die den demokratischen Erneuerungsprozeß hemmen wollten, auch gegen Streitkräfte vorgingen. Die sowjetische DDR-Botschaft hat dementiert, daß ihre Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt seien. Die 'Washington Post‘ hatte berichtet, daß an den Stützpunkten und Atomwaffenlagern der Roten Armee erhöhte Kampfbereitschaft angeordnet worden sei, nachdem DDR-Bürger in den letzten Tagen friedlich vor sowjetischen Kasernen demonstriert hätten.
smo
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