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Um Nacht, Umnachtung

■ Heinz Holliger bei den „Tagen für Neue Musik Stuttgart“

Um Nacht, Umnachtung, Fragmentarisches, Untergang, Tod und Zerfall ging es bei den diesjährigen „Tagen für Neue Musik Stuttgart“, die dem Komponisten, Dirigenten und Oboisten Heinz Holliger gewidmet waren. Zwölf Werke des fünfzigjährigen Schweizers aus den letzten dreißig Jahren wurden in den insgesamt acht Konzerten neben einigen klassischen, romantischen und zeitgenössischen Kompositionen aufgeführt. In einer Bandbreite vom Solostück bis zum großbesetzten Orchesterwerk entstand so ein Überblick über die kompositorische Entwicklung Holligers. Als maßgeblicher Mitgestalter des Festivalprogramms entwarf der ehemalige Boulez-Schüler ein musikalisches Selbstporträt, in dem er sich als Lyriker unter den Avantgarde-Komponisten präsentierte.

In seinem Frühwerk ist häufig Trakl der Inspirator, später dann auch Hölderlin, und auf das Vorbild Schumann verweisen Nachtstücke für Klavier von 1961 (sie waren in der Orchesterfassung zu hören) mit ihren Todes- und Untergangstexten bereits ebenso wie die vor zwei Jahren erst komponierten Gesänge der Frühe, in denen der späte Hölderlin und der späte Schumann quasi zu Heroen einer Ästhetik des Verstummens werden, der nicht nur Holligers Oevre allein, sondern auch Werke von Zeitgenossen, die das Programm ergänzten, verpflichtet sind.

So weit scheint diese avantgardistische Vorliebe für Fragmentarisches, die nur noch Zerfallsprodukte als Material zum Komponieren zurückläßt, gar nicht entfernt zu sein von jenem romantischen „Sehnen dem Abgrund zu“, das in manchen Fällen in Wahnsinn oder frühem Tod sich erfüllte; es wäre allerdings bei einem solchen Vergleich eine Verlagerung des „Nichts geht mehr“ vom Biographischen aufs Werk zu konstatieren. Da darf es auch nicht verwundern, daß Holliger in einem von ihm selbst dirigierten Konzert seine Orchester -Fragmente Tonscherben (1985) nach Helmut Lachenmanns in der gleichen Zeit entstandener Komposition Staub aufs Programm setzte, einem Werk, das die Besetzung von Beethovens Neunter verlangt. Die Freudensinfonie dient als Ausgangspunkt, als „ehrwürdig begangener Steinbruch“ (Lachenmann) für eine Art Anti-Neunte, die jener ursprünglich als Prolog vorausgehen sollte und die den großen Apparat äußerst sparsam einsetzt. Momente größter Spannung entstehen dort, wo die Musik klingt, als werde ihr verboten, sich wie die Beethovens auszusprechen.

Brüchiges hier wie dort: bei Lachenmann „Gestaltsbrocken“ aus dem „Steinbruch“, „Staub“, bei Holliger „Tonscherben“, Zerbrochenes also, in neun kurzen Sätzen, die übrigens mit ihrer wirkungsvollen Klangflächentechnik farbiger und phantasievoller instrumentiert sind. Im selben Konzert dann noch Schumanns „Nachtlied“ für Chor und Orchester. Holligers schon erwähnte Gesänge der Frühe und sein „Atembogen“ (1973/74) - ein geheimnisvoller Ausflug in die Welt orchestraler Blasgeräusche.

In einem anderen Konzert spielte das Berner Streichquartett je ein Werk von Holligers erstem Kompositionslehrer Sandor Veress und von seinem Landsmann Klaus Huber und dann Holligers Streichquartett von 1973. Die reichlich eingesetzten, damals neuen Spieltechniken verbrauchen sich hier, wo die Farben des Orchesters fehlen, schneller. Wie viele andere Stücke aus jener Zeit, in denen solcher Avantgardismus der Klänge als Selbstzweck gepflegt wurde, wirkt dieses Quartett heute bereits etwas veraltet. Es gab während dieser „Tage für Neue Musik“ im Theaterhaus Wangen, wo die meisten Konzerte stattfanden, tatsächlich auch ein Avantgarde-Antiquariat (!) im Foyer, das derlei Partituren aus den Sechzigern und Siebzigern en masse zu Ramschpreisen anbot.

Ein Werk, in dem sich Suche nach neuen Klängen und virtuoses Element die Waage halten, ist Holligers Siebengesang für Oboe, Orchester, Singstimmen und Lautsprecher (1967), bei dessen Aufführung der Komponist selbst den mit großen Sprüngen und frei einsetzenden Mehrklangtrillern gespickten Solopart spielte, nachdem er sich in einem von R.D. Lewis „nach musikwissenschaftlichen Analyseverfahren“ rekonstruierten Fragment von Mozart (Oboenkonzert F-Dur, KV 311) eingespielt hatte. Die fragwürdige Rekonstruktion, für die angeblich verläßlich vorausberechnet wurde, wie Mozart weiterkomponiert hätte, ließ an die ebenso fragwürdigen, aufgrund einer Analyse kompositorischer Entwicklungen die festgestellten Materialtendenzen linear in die Zukunft zu verlängern, um so den Beweis zu liefern, in welche Richtung Musikgeschichte folgerichtig weiterging oder gar zu gehen habe.

In Zusammenarbeit mit dem Staatstheater Stuttgart wurde noch Holligers erst dieses Jahr fertiggestellte Beckett-Oper What where präsentiert. Zweimal wurde das Endzeitstück gegeben (Regie: Jürgen Tamchina) - einmal mit ein paar auf ein Minimum reduzierten Theaterrequisiten, das zweitemal ohne dieselben, so daß auch das Spiel der Musiker illusionslos sichtbar wurde. Diese Version führte die Ausweglosigkeit der Situation, in der Quäler und Gequälte austauschbar agieren - alle haben in Holligers Komposition dieselbe Stimmlage (Baß) - noch drastischer vor Augen. Auch hier also jene apokalyptische Konstellation, in der nur noch reduzierteste Gesten und Äußerungen möglich sind und schließlich einzig Verstummen noch bleibt. In dieselbe Richtung wies der im Abschlußkonzert von Gottwald und Holliger selbst geleitete Scardanelli-Zyklus wie in Becketts imaginärem Käfig die Jahreszeiten vorbeistreichen, während nichts mehr zu gehen scheint, so auch hier in Hölderlins Turm.

Niemand sollte in einer Zeit, in der das Potential der Selbstvernichtung der Menschheit mehrfach bereitliegt, Endzeitgedanken als Gefühlsduselei abtun. Es wäre aber zu fragen, ob Kunst und speziell neue E-Musik die alleinige Verpflichtung hat, auf solche Perspektiven quasi abbildend zu reagieren. Von dieser ästhetischen Position scheinen keine Wege weiterzuführen.

Werner Müller-Grimmel

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