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„Europa 2000“ ohne Plan

KSZE II gefragt, weil die EG versagt  ■ K O M M E N T A R

Aus ihrem gewohnten Trott ließen sich die EG-Regierungschefs und ihre beamteten Sherpas auf dem Straßburger Gipfeltreffen nicht bringen: Da überschlagen sich die Umwälzungen in Osteuropa gerade ohne bürokratische Netze und ohne den doppelten Boden diplomatischer Kunstfertigkeiten, und die überrumpelte Zwölfer-Combo hat sichtlich Mühe, mit den rasanten Realentwicklungen mitzukommen. Daß die EG nun erstmals in einem Gipfeldokument die deutsche Einheit durch freie Selbstbestimmung postuliert, macht sich natürlich nett unterm Bonner Weihnachtsbaum. Aber selbst das sollte, nur weil es darüber zu einem kurzen Seilziehen zwischen Bonn und Paris kam, auch nicht überinterpretiert werden. Denn dieser Text stand, fast wörtlich so wie jetzt in Straßburg verabschiedet, schon im letzten Nato-Schlußkommunique und entspricht auch der KSZE-Schlußakte von Helsinki.

Interpretationskapazität erfordert es eher, herauszuarbeiten, was die Erklärung noch signalisieren soll. Nämlich: Wir, die Superwirtschaftsmacht EG, haben alles unter Kontrolle. Dabei ist - zum Glück - das Gegenteil der Fall: Die Revolutionen im Osten haben die satten EG -Bürokraten kalt erwischt. Jetzt, da einzutreten droht, was immer eingeklagt wurde, jetzt, da plötzlich gesamteuropäische Visionen und Konzepte gefragt sind, präsentieren sich die Architekten der dritten Weltmacht in spe rat- und planlos. Da fällt auf, wie oft in Straßburg die KSZE-Prinzipien als Stabilitätsgaranten bemüht wurden, ganz gleich, ob gerade die Einheit Europas beschworen oder die deutsch-deutsche Kalamität erörtert wurde. In Ermangelung anderer gesamt-europäischer Institutionen scheint das einzige vernünftige Forum, auf dem über die Landschaft eines „Europa 2000“ gestritten werden kann, tatsächlich eine Neuauflage der KSZE. Auch hier war Igel Gorbatschow - ich bin allhier - wieder schneller als die EG-Hasen: Schon vor Wochen forderte er eine KSZE II.

Thomas Scheuer

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