: Wachablösung in der SED
Der Intellektuele Gregor Gysi hat keine Kadervergangenheit / Der 41jährige Jurist verkörpert durch seine Person die Wende der ehemaligen Staatspartei ■ P O R T R A I T
41 Jahre jung, das personifizierte Ende der stalinistischen Strukturen: Als Generalsekretär eines Politbüros ist er nicht vorstellbar. Er verkörpert die rechtsstaatliche Wende der Partei, nicht nur weil er seine Anwaltsrolle immer betont: Auf dem Sonderparteitag der SED ging er mit der Parteisäuberung ins Gericht und erklärte die ganze „Notschlachtung“ der Führung, die Parteiausschlüsse für ungesetzlich. „Es mußte wohl schnell gehen, damit sie (die belasteten Politbürokraten) nicht mehr aussagen können.“ Sein Credo: „Die beste Staatssicherheit ist die Rechtssicherheit.“
Der rasende Aufstieg von Gregor Gysi begann außerhalb der Partei: Er vertrat das „Neue Forum“ bei der Frage der Zulassung im September; er protestierte gegen zweierlei Recht bei der Behandlung von Flüchtlingen. Die Organisation der Millionendemonstration in Ost-Berlin am 4. November geht auch auf ihn zurück. Das machte den Vorsitzenden der Anwaltskollegien der DDR (seit 1988) populär. Gysi stammt aus einer alteingesessenen jüdischen Familie Berlins. Sein Vater Klaus Gysi, früher Staatssekretär für Kirchenfragen, zeichnete sich schon durch seine betonte Intellektualität gegenüber anderen Staatsfunktionären aus, eine Intellektualität, die oft sarkastisch war. Antifaschismus ist bei Gysi Familientradition. Sein Vater kehrte als sogenannter Halbjude im Parteiauftrag 1944 zur illegalen Arbeit nach Berlin zurück.
Daß Gregor Gysi ein Rolle in der erneuerten Partei spielen würde, war schon im letzten Monat klar. Aber seine Kandidatur begann in der letzten Woche mit der denkwürdigen Kundgebung vor dem ZK-Gebäude. Hier schleuderte er dem Politbüro das „Es reicht“ entgegen. Er war nach dem Rücktritt des ZK Mitglied des Arbeitsausschusses und SED -Delegierter am „runden Tisch.“ Mit seiner Parteitagsrede zeigte Gysi, daß die Partei nicht nur einen glaubwürdigen Vorsitzenden hat: Gysi redete frei, brillant, voller Selbstironie und Eitelkeit. Sein Begriff von der Entfaltung des Individuums ist individuell geprägt. Er ist ein Wahlkämpfer, ein Intellektueller, ein deutscher Jude, eines der wenigen rhetorischen Talente in Deutschland. Mit seiner Person wird es auch eine schnelle Normalisierung des Verhältnisses DDR und Israels geben.
KH
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