piwik no script img

Einheit am Abgrund

■ Auf dem Sonderparteitag der SED in Ost-Berlin lehnten die Delegierten die Auflösung der Partei ab

17 Stunden dauerte die Marathonsitzung in der Nacht zum Samstag, ein Parteitag der Geduld, der Hoffnung auf Erneuerung. Es war ein Parteitag der Angst vor dem Ende und des Anfangs - eines Anfangs mit Demokratie, mit „Streitkultur“ und Wahlkampf. Der Weg von der Staatspartei zur Parteienkonkurrenz hat begonnen.

„Laßt diese Partei nicht zerbrechen, nicht untergehen“, hatte mit kieksender Kopfstimme Ministerpräsident Modrow zu Beginn des Parteitages gerufen. Als die Presse ausgeschlossen war, hatte Modrow noch einmal den Delegierten dringlich ins Gewissen geredet: Gorbatschow habe ihm nach Malta gesagt, ein Auseinanderfallen der SED gefährde die DDR und damit die Perestroika.

Aber die 2.700 Delegierten lehnten nicht nur einstimmig die Auflösung ab. Auch in den Fünf-Minuten-Beiträgen wurde nachgerade monoton die Einheit beschworen. In den Debatten am Rande war mehr Konsens als Widerspruch. Irritierend, diese Einförmigkeit unter dem sichtbaren Druck zerreißender geschichtlicher Kräfte. Dabei ist diese „Einheit“ eine mehrfache Last: Teil des verrufenen Namens, Formel für eine historisch ruinierte Einheit der Arbeiterbewegung und Legitimation für die Einheit von Partei und Staat.

Vielleicht lag es daran, daß auch die Dynamo-Eissporthalle am Rande von Ost-Berlin gleichmacherisch war - eine verfallende Aufbauleistung der 50er Jahre, eine Patina aus Lysol und angeschmutzten Farben, wenig Raum für Delegierte und Journalisten: Die Delegierten waren in engen Stuhlreihen zu einer kompakten Masse zusamengepreßt, der ehemalige Staatsratsvorsitzende Krenz war in Hinterbänke geklemmt und wußte nicht, wo er seine Knie unterbringen sollte. Einheitlich war's wohl auch, weil es diesmal nun wirklich ein Parteitag der Werktätigen, der SED-Basis war.

Dieser Parteitag selbst war schon die Niederlage des Apparates. „Wir hätten früher niemals die Chance gehabt, hierher delegiert zu werden“, sagte einer. Die Delegierten hatten klare Aufträge der Grundorganisationen (GO), ihre Reden waren Auftragsreden - nicht ohne „handlungsfähige“ Führung, ohne Programm, ohne „radikale Erneuerung“ zurückzukehren. Marlies Dänicke: „Ich will nicht in die GO zurückkehren und wieder 40 Parteibücher auf dem Tisch haben.“ Die häufigsten Begriffe an diesem Tag: „Sauberkeit“ und „Ehrlichkeit“ - Saubermänner und -frauen mit fast spießiger Wut. „Wir müssen moralisch sauber sein, damit uns niemand mehr ans Fell kann.“ Moral statt Klassenstandpunkt.

Die einzige Dynamik auf diesem Parteitag ging tatsächlich von Krenz und Schabowski aus. Um sie kreiste immer ein Strudel von Menschen, Photoapparaten, Fernsehkameras, als ob in ein Piranhabecken ein Stück Fleisch geworfen worden wäre. Hier wurde es handgreiflich: Die Parteigenossen wollten beide zur Rede stellen, und die Journalisten wollten Statements. GO-Antrag: „Könnte der Genosse Krenz aufhören, für die West-Presse Statements abzugeben, während der Parteitag arbeitet.“ Die Mehrheit allerdings wollte Rechenschaft von den Abgehalfterten: „Egon, du mußt auch reden.“ Aber das taten diese nicht, sie arbeiteten an ihrem Come-back.

Gleichmacherisch war auch die Angst, die dreifache Angst vor der Vergangenheit, vor der Gegenwart im Betrieb - und vor dem Wahlkampf, der schon begonnen hat: „Unsere negative Vergangenheit“, so Werner, ein Bauer aus Cottbus. „Im Betrieb heißt es S für Sauwirtschaft, E für Egoismus und D für Diebstahl“, sagt Erik vom Kombinat „Schwarze Pumpe“.

Manchmal gab's gar einen Anflug von Trauer um die Vergangenheit. Bernd Kubklik aus Frankfurt/Oder, forderte eine „klare Positionierung der Partei zu Erich Honecker. Dieser Mensch hat sich zum Kaiser erhoben und uns in den Dreck getreten.“

Pure Verzweiflung

Holger Reimann aus Schwerin: „Was wird aus unserer Jugend. Wir hatten so eine schöne Pionierarbeit. Die kann man nicht einfach wegstecken.“ Hier allerdings gab's, was kaum sonst spürbar war, deutliches Mißfallen. Ungleich härter formulierten die Delegierten, daß die Partei nachgerade geschlossen am Abgrund steht. Eine der wenigen Frauen, die redeten: „Frauen haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder, wegen der Demütigung und des Zorns.“ Der Schiffsschlosser Sankert aus Rostock redete in purer Verzweiflung: „Wir werden diesen Geruch so schnell nicht ablegen. Ich habe Angst. Ich bin der einzige, der noch etwas sagt. Die Kollegen reden nicht mehr mit mir. Und jetzt heißt es auch noch, wir sollen Wahlkampf machen.“ Wie Wahlkampf machen, zumal in einer Situation, wo die Partei schon ein Drittel der Mitglieder verloren hat und alle meinen, daß die Austrittsbewegung weitergeht.

Die Wahlkampffrage beherrschte auch den Streit um den neuen Namen der Partei, ein taktischer Streit: der neue Name - um die „radikale“ Erneuerung glaubhaft zu machen, oder Erneuerung, um den neuen Namen glaubhaft zu machen. Roland Hück, Jurist aus Potsdam, spitzte die Frage zu: „Vieles Gedankengut, das wir jetzt hier vertreten, geht auch in den oppositionellen Gruppen um. Aber wir haben die Erblast. Der überzeugendste Wahlkampf ist die Reinigung der Partei selbst. Noch haben die Stalinisten nicht Rechenschaft abgelegt. Einen neuen Namen sollten wir erst dann haben, wenn die Zeit reif ist.“ Für die überwältigende Mehrheit war aber die Zeit jetzt schon reif: Gegen 600 Stimmen nur stimmte der Parteitag für einen neuen Namen. 14 Vorschläge sind im Gespräch.

Die unmittelbaren, geradezu von den Massen erzwungenen Veränderungen der Partei sind klar: die Trennung von Staat und Partei und der Auszug der Parteiorganisation aus den Betrieben. Die Programmatik, die sich auch bei Greogor Gysi im wesentlichen als Zusammenstellung der kursierenden Formeln aus der Sozialistischen Internationale darstellt, blieb blaß. Ohnehin war der Parteitag zu einer Ideologiedebatte nicht fähig. Spaltungsangst, das alte Fraktionsverbot der Kaderpartei und die handgreifliche Auseinandersetzung, ob neuer Name oder nicht, verhinderten das. Das machte auch die Debattenbeiträge monoton. Die Delegierten waren offensichtlich nicht fähig zum Begriffsstreit, wiewohl in Permanenz die „Streitkultur“ gefordert wurde. Auch das basisdemokratische Gift wirkte schon: bei Club-Cola und Buletten klagten die Delegierten: „Es gibt mehr Anträge als Beiträge.“

Die neue Armut der Partei

Lebhaft war nur der Streit um den Auszug der Partei aus den Betrieben. Der Delegierte der „Schwarzen Pumpe“ warnte: Im Betrieb sei schon mit Streik gedroht worden, wenn die Partei nicht verschwinde. „Wie soll das auch beim Wahlkampf aussehen, etwa 25 verschiedene Parteibüros in den Betrieben.“ Diese heilige Kuh der Kaderorganisation war geschlachtet.

Welche Konsequenz die Trennung von Staat und Partei haben wird, war wohl den meisten Rednern nicht klar. Es wird natürlich die Parteifinanzen betreffen. Der Parteitag in seiner Schäbigkeit; HO-Ernährung und Enge waren schon die Vorwegnahme der neuen Parteiarmut. Interessanterweise beharrten die Armeevertreter, die in voller Uniform auftraten, am energischsten auf dieser Trennung: Erik Scheler von den Grenztruppen erklärte: „Wir sind für den vollständigen Bruch. Wir wollen nicht länger Armee einer Partei, sondern die des ganzen Volkes sein.“ Am Rande des Parteitages deuteten NVA-Angehörige an, was es für ein Schock in der Armee gewesen war, als Honecker sie in den Bürgerkrieg hatte schicken wollen.

Ein Parteitag der Geduld, der kollektiven Hoffnung auf Erneuerung und neue Begeisterung. Den Vorschlag eines Delegierten um vier Uhr morgens, sich mit einer „Sitzgymnastik“ aufzulockern, lehnte der neue Vorsitzende Gysi mit dem scharfen Verweis auf den „Ernst der Lage“ ab. So kam die einzige Auflockerung von der taz, die nach Mitternacht in großen Packen verteilt wurde - sechs Stunden vor dem 'Neuen Deutschland‘.

Die Delegierten erduldeten die Wahl von 100(!) Vorstandsmitgliedern, eine Prozedur, die noch bis zum nächsten Mittag ging. Sie übten sich in Demokratie und schlugen sich dieselbe gegenseitig um die Ohren: „Wir haben schon abgestimmt. Auch das ist Demokratie“, polterte der ungeschickte Versammlungsleiter Berghofer. Er mußte bei seinen Fehler auch wieder betonen: „Wir lernen ja, auch in Demokratie.“ Wo steht die Partei? „Wir müssen uns nicht mehr in die Mauselöcher verkriechen. Nach acht Wochen nur Rückwärtsgehen in den Morast, haben wir eine Basis für den ersten Schritt.“

Klaus Hartung

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen