: Goebbels‘ Erbe
■ Musik im Radio zwischen Design des Alltags und Mehrheitenbeschaffung
Unlängst luden das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik und das Adolf-Grimme-Institut zu den Hörfunkgesprächen 1989 nach Frankfurt. Verhandelt wurde die Musik für Millionen, befragt das heimliche Hauptprogramm des Radios. Zum Erstaunen der Kenner des Milieus wurde ein Referat über den Musik-Redakteur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Designer und Mehrheitenbeschaffer angekündigt; der Vortragende distanzierte sich dann allerdings schleunigst und entschieden von diesem (ihm aufoktroyierten) Untertitel, befaßte sich mit der Spezifizierung der Rundfunkprogramme und den Zielen der Musikpräsentation im Radio. Der Referent, auf unterer Leitungsebene beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) beschäftigt, erläuterte, daß der Musikgeschmack der Einzelnen in der Regel mit dem 25.Lebensjahr, spätestens mit dem dreißigsten ausgeprägt sei und sich danach kaum mehr verändere. Diese empirisch zu belegende Tatsache habe zur Polarisierung des musikalischen Geschmacks zwischen den Generationen geführt, dem noch eine zum Teil äußerst harsche Spezialisierung der HörerInnenwünsche innerhalb der verschiedenen Altersgruppen folge. (Auf diese Entwicklung reagierten die Medienkonzerne bekanntlich mit einer Spezifizierung des Angebots und der Ausrichtung mehrerer Kanäle, die sich am deutlichsten durch ihre jeweilige „Musikfarbe“ unterscheiden.)
Als Programmziel für alle Frequenzen, die am Kampf um eine möglichst hohe Einschaltquote teilnehmen, formulierte der Kölner U-Musik-Abteilungsleiter „mehr Lebenslust“.
Diese Auffassungen stehen in deutscher Geschichtskontinuität, und es dürfte alles andere als Zufall sein, daß das Stichwort vom „Mehrheitsbeschaffer“ so harsch ausgeklammert wurde. In einer kürzlich vorgelegten Studie über Die Funktion der Musik im deutschen Rundfunk 1933 bis 1945 (Centaurus-Verlagsgesellschaft Pfaffenweiler 1988) beschrieb Fanny Drechsler anschaulich das bunte Mischprogramm des Reichsrundfunks und dessen Ausrichtung mit - Musik. „Der Rundfunk im 'Dritten Reich‘ war primär ein Medium der Unterhaltung, das zur Ablenkung und Entspannung breiter Bevölkerungsschichten eingesetzt wurde“, resümierte Fanny Drechsler. „Goebbels wies immer wieder darauf hin, daß der Rundfunk neben kultureller Repräsentation und weltanschaulicher Thematik Auflockerung durch Unterhaltungssendungen, Entspannung vor und nach der Arbeit vermitteln müsse.“ Die Zahl und die Dauer der zuvor sehr ausgedehnt präsentierten Vorträge wurde 1934 drastisch reduziert; mehr als 3.000 kurze Zeitfunk-Beiträge wurden zusätzlich ins Programm genommen, vor allem aber wurde die Menge der unterhaltenden Musiksendungen (+ 5.518) enorm erhöht. „Jede Sendung muß unterhaltend sein, soll ein vollendetes Kunstwerk darstellen“, heißt es in einer Mitteilung der Reichsrundfunkgesellschaft vom 24.5.1934, „das ist der vollendete politische Rundfunk, weil er unser Volk zugleich mit Freude und Spannung erfüllt und es innerlich zur festen nationalsozialistischen Haltung emporhebt.“
Die Rundfunkanstalten in den verschiedenen Besatzungszonen, eingerichtet nach Maßgabe der alliierten Umgestaltungs- und Demokrastisierungsprogramme, später die ARD-Anstalten praktizierten in ihren redaktionellen Konzepten, den Wortbeiträgen der politischen und kulturellen Abteilungen die deutlichste Abkehr und Abgrenzung von nationalsozialistischer Propaganda; nun diente der Musik -Mantel dazu, das Volk mit Freude und Spannung zu erfüllen und es innerlich zur festen demokratischen Haltung emporzuheben. Die ideologische Lockerungsübung ist erstaunlich weitgehend gelungen.
Die Funktion der Musik für Millionen aber blieb strukturell die gleiche wie vor 1945. Das Programmziel „mehr Lebenslust“ klingt wie die zugespitzte Zusammenfassung der Ausrichtung des Rundfunks in den dreißiger Jahren. „Es ging in erster Linie darum, dem Unterhaltungs- und Ablenkungsbedürfnis der Massen vom Arbeits- und späteren Kriegs-„Alltag“ wirkungsvoll entgegenzukommen“, notierte Drechsler. Die Forderungen von Musikwissenschaftlern und -kritikern, die sich weltanschaulich besonders konform gaben, „wurden von den Programmverantwortlichen im Rundfunk zu einer Geschmacks- bzw. Generationsfrage deklariert“. Auch andere Autoren haben in den letzten Jahren darauf hingewiesen, daß „Rundfunk im Dritten Reich“ nicht in erster Linie „Verbreitung nationalsozialistischer Ideologie“ bedeutet, „sondern vor allem perfekte Unterhaltung“ (S.Wessels, 1983).
Theodor W.Adorno unterzog die Funktion der Unterhaltungsmusik bereits Anfang der sechziger Jahre einer richtungsweisenden Ideologiekritik: „Musik als soziale Funktion ist dem Nepp verwandt, schwindelhaftes Versprechen von Glück, das anstelle des Glücks selber sich installiert.“ In den zwanzig Jahren, die seit Adornos Tod vergangen sind, wurde nicht nur der größte Teil seiner Kritik der Kulturindustrie gründlich verdrängt, sondern auch seine erkenntnistheoretische Methode auf unterschiedliche Weise in Mißkredit gebracht. Wahrscheinlich läßt sich aber kein musikalisches Unterhaltungsprogramm im heutigen Rundfunk „verantworten“ mit Adornos Ausführungen zur „Triebökonomie der Zuschauer“ und Hörer im Bewußtsein. Wie sehr die Musik für Millionen in ihrer ständig vom Rundfunk portionierten, bereit gehaltenen ausgewogenen Form den Seelenhaushalt der Massen beeinflußt und keineswegs nur auf vorfindliche Wünsche reagiert, sondern unauffällig, aber höchst aktiv zu einem wesentlichen Design des Alltags wird, erläuterte Adorno bereits vor drei Jahrzehnten: „Von Musik angefärbt wird eher die Öde des inneren Sinns. Sie ist die Dekoration der leeren Zeit. Je mehr, unter den Bedingungen der industriellen Produktion, das Bewußtsein eines zeitlichen Kontinuums, der emphatische Begriff von Erfahrung zergeht, je mehr Zeit in diskontinuierliche, dem Schock sich anähnelnde Momente zerfällt, desto nackter, bedrohlicher fühlt sich das subjektive Bewußtsein dem Verlauf der abstrakten, psysikalischen Zeit ausgeliefert.“
Die Fragen an den Musikredakteur als Mehrheitenbeschaffer sind auf mehreren Ebenen virulent. Zu vermuten ist, daß die Mehrzahl der in diesem Distributionssektor der Musik Tätigen genauer über die sozialen Wirkungsmechanismen der mitverantworteten Programme Bescheid weiß, als es bescheidene Selbstauskunft oder gar die Naivität der öffentlichen Rede suggerieren. Die Herren wissen um ihre Macht in der parzellierten Kulturlandschaft und wissen sie zu gebrauchen. An ihnen scheint es ja in hohem Maß zu liegen, ob und wie die Einschaltquote steigt oder fällt. Aber sie sind nicht nur zu Jägern von Prozentpunkten in der Konkurrenz der Kanäle geworden, zu Sammlern von Hörermehrheiten quer durch die soziologisch auseinanderdividierten Gruppen der Bevölkerung. An ihnen liegt es, daß (und in welcher Form) die einzelnen Radio -Programme unermüdlich Reklame für sich selbst, für die erheblich ausgeweitete Rundfunkindustrie an sich machen (denn die hat ja nicht nur die Rivalität der Kanäle untereinander, die zwischen einzelnen Sendeanstalten, sondern zugleich die Konkurrenz mit den Zeitungen und Zeitschriften, dem Fernsehen und den Speichermedien, auch den Wettstreit mit den traditionellen Institutionen von Bildung und Unterhaltung, Theater, Volkshochschulen, Konzerten, Vereinsleben etc. zu bestehen).
Der Musikteppich stellt markanter als alles andere das Umfeld für die im Radio betriebene Werbung her, auch wenn diese in den öffentlich-rechtlichen Programmen noch einen relativ kleinen zeitlichen Anteil ausmacht. Derweil ist die Schleichwerbung viel weiter fortgeschritten, als das beiläufige Zuhören (auf welches die Mehrheit der Programme inzwischen spekuliert) wahrhaben möchte. Mitten in flotte Rhythmen hinein erläuterte etwa heute eine bekannte Hamburger Zeitungsherausgeberin, Gräfin D., warum sich mit einem Audi Quattro besser als mit einem Porsche auf den innerstädtischen Verkehrsadern Slalom fahren läßt: Das plakatiert nicht nur bestimmte Autotypen, sondern auch das Verkehrsverhalten von Rasern und Verkehrsrowdies; wenn sich schon diese Achtzigjährige keine Hemmungen auferlegt, warum sollte das der Achtzehnjährige tun, der meint, vor ihm liege nichts als freie Fahrt und Papi könnte ihm die Welt kaufen? Unablässig propagiert das Radio Reiseziele mit seinen Verkehrsdurchsagen. Die Staumeldungen vom Leverkusener Kreuz dürften einem bekannten Arzneimittel- und Chemieprodukt -Hersteller, der das Kreuz im Firmen-Wappen führt, Millionen beim Werbeetat einsparen helfen. Die seriösen Zeitungen praktizieren Werbung auf dem Weg der „Verlagsbeilagen“: PR -Artikel, welche die Redakteure journalistisch nicht verantworten wollen und können, werden so in Umlauf gebracht. Im Rundfunk, eingebettet in die scheinbar neutralen Musikpolster, bleibt der PR-Charakter vieler Beiträge ungleich schwerer zu erkennen. Daß es ihn gibt, ist kaum zu leugnen. Da braucht es nicht erst des Beweises, daß das „spontane“ Interview, welches der Wirtschaftsredakteur mit dem Landwirtschaftsminister früh am Morgen führt, mit Fragen und Antworten auf dem Papier des Ministeriums getippt, bereits im Studio liegt.
Das Radio trägt das Seine zur Beschaffung auch der politischen Mehrheiten bei. Es kann gar nicht anders sein. Bigott ist nur, daß so getan wird, als wirkten sich die Möglichkeiten der subtileren politischen Einflußnahme nicht ebenso auf die Programme aus wie die massive Einmischung auf dem Weg der „Personalpolitik“ und die unmittelbare Einrede der Politiker, Parteien etc. etc.
Die Musik schlägt den rechten Takt dazu. Ohne sie stünden die Statements so nackt da wie die verbalen Einflüsterungen im Regen der Nichtbeachtung. Hinter wesentliche Errungenschaften und das Mischprinzip des Goebbelschen Rundfunks wollte (und konnte bislang) das Radio-Machen hierzulande nicht zurücktreten; die Überschreitungen in Richtung eines kritischen, aufklärerischen, nachdenklich vortragenden Mediums wurden wohl stets mit dem Preis der tendenziellen Nichtbeachtung bezahlt, mit dem Fall der Einschaltquote ins Unmeßbare - es sei denn, die Wortbeiträge dieser Richtung wären zeitlich gebührend kurz gehalten und auf den fliegenden Teppichen der flotten Musik dahergekommen. Daß die „Musikfarben“ des Radios also politisch so ganz unberührt wären, läßt sich nicht behaupten. Wofür hier plädiert wird, das ist: daß sich das Nachdenken über die Art der Einfärbungen, über den kunstvollen Umgang mit der Koloratur und über die „Farbenlehre“ der Radio-Musik in Zukunft schärft.
Frieder Reininghaus
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