Geschichte entscheidet über Wiedervereinigung

Wjatscheslaw Daschitschew gehört als Deutschlandexperte zu den engeren Beratern der sowjetischen Regierung und Befürwortern der Perestroika  ■ I N T E R V I E W

taz: Am Montag haben sich die Vertreter der vier Mächte in Berlin zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten getroffen, um über die Lage in Berlin zu reden. Warum?

Wjatscheslaw Daschitschew: Ich denke, der Ablauf der Ereignisse hat es ohnehin notwendig gemacht, daß die Vertreter der vier Siegermächte sich zusammensetzten, um die neuentstandenen Probleme zu erörtern. Der Ablauf der Ereignisse vor allem in der DDR und in der Tschechoslowakei, aber auch in anderen osteuropäischen Ländern war ja atemberaubend. Und in Berlin als Ganzheit tauchen nun ganz unerwartete Fragen auf - im Zusammenhang mit der Währung, Transport, Personenverkehr und anderem. Und soviel ich weiß, soll und muß bei diesem Treffen auch ein neuer Entwurf für Berlin als Kulturstadt diskutiert werden, zum Beispiel Berlin als Zentrum internationaler Konferenzen. Ich meine, die Zeit ist reif für einen solchen Schritt, und unser Institut hat schon vor mehreren Monaten vorausgesehen, daß es dazu kommt, und hat die Regierung auch entsprechend beraten. Zudem ist ja auch nicht ausgeschlossen, daß sich noch andere Länder in diese gemeinsame Diskussion einschalten - zum Beispiel während der von Gorbatschow vorgeschlagenen Helsinki-II-Konferenz.

Haben etwa Kohls 10 Punkte im Zusammenhang mit Hans Modrows Erklärungen in letzter Zeit die Sowjetunion da in einen gewissen Zugzwang versetzt?

Ich glaube, daß dies nicht die neuen innerdeutschen Beziehungen bewirkt haben, sondern einfach die Ereignisse in der DDR. Man muß der dort gründlich veränderten Lage gerecht werden. Das war der eigentliche Anlaß zur Einberufung einer solchen Konferenz.

Es hat ja in letzter Zeit von sowjetischer Seite, auch von Präsident Gorbatschow, sehr widersprüchliche Angaben dazu gegeben, ob eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten in fernerer Perspektive denkbar ist. Könnten Sie sich konkrete Schritte dazu vorstellen?

Ja, Gorbatschow hat gesagt, daß die Geschichte über Vereinigung und die Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten entscheiden wird. Die Formen, die die zwölf Staaten der Europäischen Gemeinschaft dafür gefunden haben, entsprechen auch unseren Vorstellungen. Das heißt, das deutsche Volk muß das Recht auf Selbstbestimmung haben und dieser Prozeß - wenn es dazu kommt - muß demokratisch und friedlich sein und darf weder die Stabilität noch die Sicherheit Europas beeinträchtigen. In den nächsten Monaten eine solche Lösung zu erwarten ist allerdings meiner Ansicht nach nicht realistisch. Eine Verschmelzung der ökonomischen und politischen Strukturen, von Planwirtschaft und Marktwirtschaft, ist unmöglich. Im Laufe weiterer Reformen werden sich die ökonomischen Strukturen angleichen. Nicht nur zwischen der DDR und der Bundesrepublik, sondern auch zwischen der Sowjetunion, den anderen osteuropäischen Staaten und westeuropäischen Staaten. Das schafft Voraussetzungen für die Überwindung der Spaltung Europas. Das Problem der Konvertierbarkeit der Währungen in der DDR und in der Sowjetunion ist heute das Haupthindernis, nicht nur für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern auch für den freien Reiseverkehr zwischen Ost und West, und dieses Problem muß unbedingt gelöst werden. Ich meine, daß Michail Gorbatschow mit seinen Aussagen hier einen sehr flexiblen Standpunkt eingenommen hat, der auf den Realitäten der Gegenwart basiert, aber den Weg in die Zukunft nicht versperrt.

Wirtschafts- und Sicherheitsgarantien müßten den Prozeß einer deutschen Neuvereinigung also flankieren. Gibt es da schon konkrete Punkte in den sowjetischen Vorstellungen? Bestimmt ist ja die Garantie der polnischen Westgrenze eine solche Conditio sine qua non, aber doch sicherlich nicht die einzige?

Die Aufrechterhaltung der zentraleuropäischen Grenzen ist die wichtigste Voraussetzung für eine neue Friedensordnung in diesem Gebiet. An den Grenzen darf nicht gerüttelt werden. Bundeskanzler Kohl hat ja mehrmals erklärt, daß hier gegenüber Polen keine Grenzansprüche bestehen. Gemäß der Helsinkiakte könnten natürlich auch solche Grenzen in Zukunft geändert werden, falls die betroffenen Seiten auf friedlichem Wege entsprechende Vereinbarungen treffen. Daß der sozialpolitische Status quo und auch das Kräftegleichgewicht auf dem europäischen Kontinent zur Zeit sehr schnell unterminiert werden, dies muß man als Realität der gegenwärtigen Entwicklung einfach hinnehmen.

Um auf mögliche Konföderationsformen zurückzukommen: Habe ich Sie richtig verstanden, daß erst das europäische Haus gebaut werden muß, bevor ein deutsch-deutscher Balkon drangeklebt werden kann?

Unsere Prognosen für eine Konföderation der beiden deutschen Staaten müssen zur Zeit auf den Realitäten basieren. Vorstellbar würde sie erst, wenn gewisse Voraussetzungen dafür reif würden. Ich denke da an eine Erweiterung und Vertiefung des KSZE-Prozesses angesichts der heutigen Lage in Zentraleuropa. Wenn eine neue Friedensordnung in Europa herrschte, eine Atmosphäre des Vertrauens, in der Feindbilder, Drohungen, Hegemonismus und Alleinvertretungsansprüche schon abgebaut wären, in einem solchen Fall kann man sich auch eine derartige Konföderation vorstellen. Die Schaffung des gemeinsamen Währungsfonds, der ja auch die Inflation in der DDR stoppen soll, verdeutlicht, daß die Bundesregierung nicht an einer Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Stabilität in der DDR interessiert ist.

Was beschäftigt denn Sie persönlich angesichts der Vorgänge in Zentraleuropa?

Oft fragt man sich, wie die Sowjetunion diese Prozesse überhaupt verdauen kann. Ich denke, daß diese Entwicklung auch für die Sowjetunion einen positiven Charakter trägt. Für die osteuropäischen Länder bedeutet sie die Überwindung der wirtschaftlichen und politischen Krise, und daran ist die Sowjetunion interessiert.

Sehen Sie so etwas wie eine innenpolitische Rückwirkung dieser Prozesse auf die Sowjetunion?

Ich denke, daß die Umwälzungsprozesse in der DDR und der CSSR auch die Entwicklung in der Sowjetunion beeinflussen. Mit diesen Partnern können wir jetzt - anders als noch vor Monaten - die Erfahrungen bei der Durchführung von Reformen austauschen und uns gegenseitig beraten. Das trägt zur Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Lage bei und eröffnet einen gemeinsamen Weg in die Zukunft.

Interview: Barbara Kerneck