: Zwanzig Millionen Rumänen ohne Öffentlichkeit
Mircea Dinescu über die geknebelte Existenz seines Volkes ■ D O K U M E N T A T I O N
Als sich der rumänische Poet Mircea Dinescu im April diesen Jahres in der französischen Tageszeitung 'Liberation‘ zum letzten Mal öffentlich äußerte, hatte das für ihn unmittelbare Konsequenzen. Seitdem steht er unter Hausarrest. Sein Haus wird rund um die Uhr von 18 Mann in drei Schichten mit je sechs Beamten bewacht. Er darf niemanden besuchen, und niemand darf mit ihm sprechen. Mit dem im folgenden in Auszügen dokumentierten Aufsatz über die Situation in Rumänien nach dem Parteitag der Kommunisten begibt sich Dinescu in Lebensgefahr.
Wo gibt es einen Ausweg, wenn die Berliner Mauer - Stein für Stein - importiert und an den Grenzen Rumäniens aufgestellt worden ist? Europa ist für den Führer mit seiner weisen Voraussicht zu einem teuflischen Atlantis geworden, das im Sumpf der Demokratie versinkt. Und die Rumänen? Nur der ureigene Genius Seiner Herrlichkeit wird sie vor dieser Katastrophe bewahren. Wer verteidigt uns? Die blinde Justiz? Diese Herren, die an den Universitäten gelernt haben, daß die „rumänische Linke“ dem „römischen Recht“ an Kraft und Einsicht überlegen ist, verrohen in der Ohnmacht und im Gehorsam, der für dieses System spezifisch ist; das geht so weit, daß sie die wundersame Verfassung der Sozialistischen Republik Rumänien für ein einfaches Propagandamittel halten, ein Werkzeug des Teufels, das einem in erster und in letzter Instanz nicht hilft. Ein ehemaliger Schulkollege, der in einem Augenblick der Verzweiflung und der Revolte ein paar gegen den Präsidenten gerichtete Flugblättchen im Nordbahnhof an die Wände geklebt hat, ist 1970 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden - faszinierend, daß es sein Verteidiger war, der ihn bei der (selbstverständlich nichtöffentlichen) Verhandlung am heftigsten angeklagt hat.
Wen soll man zu Hilfe rufen? Unsere populäre Volksmiliz? Die stämmigen und rotwangigen Burschen, die die Kolchosen im Stich gelassen haben, in der Obhut der alten und der schwachen Frauen - sie sind in ihren Uniformen in Zehnmeterabständen auf die Straßen Bukarests verpflanzt worden, jetzt blicken sie auf die Bevölkerung der Hauptstadt wie auf eine bedürftige Schafherde herab. In der kurzen Ausbildungszeit haben sie gelernt, daß alles, was sich nach 20 Uhr bewegt (die Stunde, in der die Lichter ausgehen, in der die Kinos, die Restaurants zumachen, das heißt die Stunde, in der die Städte Rumäniens sterben), daß alle Fußgänger potentielle Übeltäter oder Brandstifter sind, die auf eine Gelegenheit warten, das Standbild des Genossen Lenin anzuzünden (das übrigens im vergangenen Jahr schon einmal gebrannt hat). Wo kann man Unterstützung finden? Bei den Angestellten der Presse? Bei den Aposteln des Personenkults, die den Löffel, mit dem sie essen, als Schreibgerät benützen? Seit zwanzig Jahren erscheinen in unseren Zeitungen die gleichen grob retuschierten Fotografien, klappern die gleichen hohlen Phrasen, und die einzigen wirklichen Freiräume darin sind die Spalten mit den Todesanzeigen. Die wirklich bedeutenden Zeitungsleute scheinen alle im Zweiten Weltkrieg gestorben zu sein.
Wie es mit Glasnost steht? Ob etwas von den sowjetischen Zuständen durchscheint? Ich kenne die Gründe nicht, aber auch umgekehrt scheint die Fensterscheibe, durch welche die Moskauer Presse die rumänische Realität beobachtet, verrußt zu sein - als beobachtete sie eine Sonnen- oder Mondfinsternis. Mit anderen Worten, sie sieht nichts. Ich glaube, Herr Gorbatschow schaut durch die schwarzen Brillen des Generals Jaruzelski nach Rumänien.
Und die Dissidenten? Wenigstens von ihnen hört man von Zeit zu Zeit einen Aufschrei. Mich beschleicht aber in letzter Zeit die seltsame Ahnung, daß die so rar gesäten rumänischen Dissidenten vom Regime am Leben gehalten werden paradoxerweise zu propagandistischen Zwecken. Sie verschwinden zu lassen - dafür ist es zu spät, da die westliche Presse und die internationalen Menschenrechtsinstitutionen von ihrer Existenz erfahren haben. Es ist aber ein Trugschluß, zu glauben, daß die Rumänen schweigsamer sind als die Deutschen, die Ungarn und Polen - bloß weil es hier nur einen Dissidenten auf je zwei Millionen Einwohner gibt.
Eigentlich leben in Rumänien zwanzig Millionen Protestierende und Dissidenten ohne jede Öffentlichkeit, die ihre Existenz geknebelt fristen. Ich habe nie gehört, daß auf den Straßen Berlins in den vierziger Jahren antifaschistische Demonstrationen stattgefunden hätten. Gewiß flüsterte man in vielen Häusern, aber auf der Straße herrschten Ordnung und Disziplin, der braune Terror handelte mechanisch, die Bevölkerung nährte sich vom Staatsoptimismus, die sogenannten Verräter wurden ohne gerichtliches Verfahren erschossen.
Heute kann es bei uns aber keine politischen Prozesse geben - aus dem einfachen Grund, weil in der Verfassung deutlich geschrieben steht, daß jeder Bürger das Recht auf Meinungsfreiheit hat, mehr noch, in den Parteistatuten ist festgehalten, daß jedes Parteimitglied sogar den Generalsekretär kritisieren darf. Die Technik der Repressionsorgane besteht darin, daß sie insgeheim handeln, als wären sie die Opposition. „Die Söhne des Avram Iancu“ - jene obskure Gesellschaft, die einigen deutschen Schriftstellern, die aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland emigriert sind, Briefe mit Morddrohungen geschickt hat, hat die gleichen Leckereien auch vielen ungarischen und rumänischen Intellektuellen in Rumänien zugesandt.
Gewiß, wir hätten die neckischen Epistel-Helden liebend gern beim ZK verklagt, aber wir fürchten, daß ihr Vater dort zu suchen ist. Den „gefährlichen“ Arbeitern hingegen werden keinerlei Briefe geschickt. Die Arbeiter werden selbst an ihre eigenen Adressen geliefert, zwischen vier Bretter eingesperrt, und nur ihre entsetzten Familien verstehen die Todesbotschaft richtig, die offizielle Todesursache lautet dann meist: Arbeits- oder Verkehrsunfall, Selbstmord, Herzinfarkt und so fort. Angeschirrt vor den Wagen der Protestierenden, muß man darauf achten, nicht ohne Begleitung auf die Straße zu gehen, die Kinder nicht unbeaufsichtigt draußen spielen zu lassen, sich nicht allzu lang in einer gewissen Institution aufzuhalten und im Wartezimmer auf einem Sessel mit radioaktivem „Bezug“ zu sitzen, zu Hause, in den vier Wänden, die Türklinken zu desinfizieren (sie könnten ja vergiftet sein).
In Rumänien darf ein Schriftsteller in den eigenen vier Wänden ohne polizeiliche Genehmigung keine Schreibmaschine benutzen. Und was den Gefängnisaufenthalt betrifft, soll ein Beispiel für andere stehen: ein ehemaliger rumänischer Dissident, von Beruf Lyriker, wurde in einem „freundschaftlichen“ Gespräch mit dem Staatsanwalt vor die Wahl gestellt: nur drei Monate Gefängnis, in einer Zelle mit gewöhnlichen Verbrechern, die angeblich eine Vorliebe für junge Männer hatten - oder das Exil. Der Schriftsteller dankte dem Staatsanwalt für seine Aufrichtigkeit und wählte das Exil.
Die letzten Zuckungen der Würde haben 1981 stattgefunden, bei der Landeskonferenz der Schriftsteller, als viele Stimmen sich nicht mehr in die vom Zentrum vorgegebene Harmonie fügen wollten. Dennoch: Der passive Widerstand einiger bedeutender Autoren ist wirkungslos geblieben; wir haben auf radikale Forderungen verzichtet; wir haben zugelassen, daß man uns eine gehorsame Verbandsführung aufgezwungen hat, die Massenemigration desillusionierter Künstler hat Leerräume hinterlassen, und all das hat den Schriftstellerverband unterhöhlt, der zu einer Genossenschaft für die Produktion von Entfremdung geworden ist. Das Gespenst der Misere schwebt heute über den meisten rumänischen Schriftstellern, während der Berg der Lobpreisungen den heißgeliebten Architekten des Abbruchs Monat für Monat entgegenwächst. Es ist die Ironie eines Schicksals, das wir wahrscheinlich verdienen, und sei es auch nur für den nur notdürftig verhüllten Kollaborationismus, mit dem wir es akzeptieren, einen „neutralen“ Artikel neben den patriotischen und blödsinnig -lyrischen Dreckhaufen jener zu veröffentlichen, die auf allen vieren vor dem Tyrannen kriechen.
Ein Generalstreik der wirklichen Schriftsteller wäre die nächstliegende Lösung, mit der die rumänische Kultur ihr Gesicht vielleicht noch wahren könnte. Oder ganz im Gegenteil: Wenn diese Schriftsteller all ihre Wörter versammelten.
Der vollständige Artikel des Dichters erschien in der gestrigen Ausgabe der FAZ. Wir drucken ihn mit der freundlichen Genehmigung des Verlages nach.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen