„Wenn nicht gerade Revolution ist, bin ich Künstler“

Die oppositionelle Gruppe „Tschechische Kinder“ will einen König auf dem Hradschin / Zur Zeit arbeitet sie aber mit dem „Bürgerforum“ zusammen / Ihr Kredo: „Es wird immer etwas geben, wogegen man ankämpfen kann“  ■  Aus Prag Irene Hanappi

„Tender revolution“ nennt man in Prag die allmähliche Veränderung im Bewußtsein der Leute. Seit die Angst nicht mehr das dominierende Lebensgefühl ist, kehrten viele aus der inneren Emigration zurück. Jetzt, da auch die jahrelang verinnerlichte Selbstzensur fiel, wird Meinung zur Schau getragen wie die rot-weiß-blaue Kokarde, die jeder sich an den Mantel steckt.

Petr Placak, den Gründer der Gruppe „Tschechische Kinder“ findet man schwer. Mal heißt es, er arbeite in einem Bücherantiquariat in der Nähe der Karlsbrücke, mal sagt man mir, er sei gerade da gewesen, mußte aber wieder weg, käme vielleicht wieder... Vor ein Uhr nachts brauche ich bei ihm nicht anzurufen... Schließlich treffe ich ihn in der Galerie „U Recickych“, wo seit den Novembertagen ein unabhängiges Informationszentrum eingerichtet wurde. Zwei Tage nach den Ereignissen vom 17.November begann man hier mit der Publikation von Nachrichten, die sonst nirgends aufschienen. Mittlerweile hat auch 'Korona‘ („Die Krone“) - das Organ der „Tschechischen Kinder“ - ihren Sitz hier, und die ehemalige Samisdatschrift 'Revolver Revue‘ wird ebenfalls produziert. In dem gut ausgeleuchteten Raum mit Rundbogendecke, wo einst Ausstellungen stattfanden, nimmt Peter in einer Mauernische Platz. Lächelnd sitzt er vor dem wackeligen Tischchen mit orangefarbener Schreibmaschine im Fünfziger-Jahre-Design. Seine Leidenschaft für das Mittelalter steht ihm im Gesicht geschrieben. Mit seinen 26 Jahren gleicht er einem spätgothischen Heiligenbild: Spitzbart, Mittelscheitel, kinnlanges Haar. Schräg hinter ihm zeigt ein selbstgemaltes Plakat den Löwen - das Waffentier von Prag und Symbolfigur der „Tschechischen Kinder“.

Von der etwa 50 aktive Mitglieder zählenden Gruppe hat die Charta-77-Sprecherin Dana Nemcova noch im Sommer gesagt, sie bringe ein poetisches Element in die Politik ein und sei im wesentlichen ein kooperationswürdiger Partner. Peter Placak geht weiter. Er will „positive Irrationalität“ mit politischem Leben verknüpfen. Doch solange die Demokratie nicht fest im Sattel sitzt, wird er mit dem Bürgerforum zusammenarbeiten. Später erst sollen die eigenen Ziele verfolgt werden: Die Burg soll wieder einen König erhalten. Ein weiser Mann muß es sein, in der Tradition des Heiligen Vaclav. Der Mann, der von seinen Jüngern selbst gerne „König“ genannt wird, lacht viel und scheint oft zu scherzen. Er hat nicht viel Zeit, stülpt sich seine Zipfelmütze über den Kopf und geht.

„Wenn nicht gerade Revolution ist, bin ich Künstler“, erzählt Jan, ein großer Bärtiger mit mittellangem Haar, der an der Xeroxmaschine steht. Eine neue Serie von Plakaten ist im Entstehen. Liebliche Frauenbilder aus dem Prager Fin de siecle als Hintergrund für Parolen wie „Pluralität“ oder „Dialog“. Zwei sich küssende Engel in pathetischer Pose und darunter: „Freie Wahlen“. Das Bild einer knorrigen Alten, die gnadenlos ein kleines Mädchen abschrubbt, mit dem Titel: „Nein zum Monopol der Partei“.

„Es wird immer etwas geben, wogegen man ankämpfen kann“, meint Jan, „auch wenn es eine vom Bürgerforum ernannte Regierung ist.“ Sich in einer politischen Gruppe zu engagieren, interessiert ihn nicht sehr. „Manchmal finde ich einen Fetzen Papier mit einem Programm drauf, wenn ich mit den Forderungen einverstanden bin, unterschreibe ich“, sagt er lachend. In der Untergrundbewegung sieht auch er den Versuch, mehr Fantasie walten zu lassen und die jetzige Situation liebt er deshalb so, „weil keiner weiß, was am nächsten Tag sein wird“.

Der zweite Mann an der Maschine ist Psychiater von Beruf. In seiner Klinik gab es bis jetzt noch keine gravierenden Veränderungen, sieht man einmal davon ab, daß KPC-Zelle und Arbeitermilizen sich aufgelöst haben. Nach wie vor wird vor allem Pharmatherapie praktiziert. Er selbst wurde früher auch herangezogen, um psychiatrische Gutachten zu erstellen über politisch Verfolgte, die vor Gericht standen. Oft konnte er ihnen einen Dienst erweisen, wenn er sie für krank erklärte. Denn im Unterschied zur UdSSR ergeht es den „Politischen“ in den tschechischen Kliniken nämlich besser als in den Gefängnissen. Seine Zukunft sieht der etwa 34jährige mit den kurzen, strubbeligen Haaren, den schräggestellten Augen und den stark betonten Backenknochen als Gesprächstherapeut mit eigener Praxis in Prag.

„Jeder wird jetzt dazu kommen, auf dem Gebiet zu arbeiten, wo seine Begabungen liegen.“ Ota Veverka will von seiner Musik leben. Er ist Gitarrist. Begründer der „John-Lennon -Gruppe“ und zur Zeit im Organisationskomitee des Bürgerforum tätig. Bis vor kurzem war er noch in Haft, weil er versucht hatte, im Angedenken an Jan Palach am Wenzelsplatz einen Strauß Blumen niederzulegen. Davor mußte er als Mechaniker, Hilfsarbeiter und Nachtwächter tätig Dienst tun. Die im Dezember 1989 gegründete Gruppe versteht sich als allgemeine Kulturbewegung und hat es sich zum Ziel gesetzt, die Ideen der Gewaltlosigkeit und des Friedens zu propagieren. Der ehrwürdige Beatle, an dessen Todestag sich jährlich Massen von Jugendlichen versammeln, gilt in diesem Zusammenhang mehr als Ideenspender denn als Kultfigur.

„Diskutieren kann man, doch essen muß man“ oder: „Das Volk muß entscheiden nicht die Menge“ lauten sogenannte rote Losungen - Agitationssprüche der Partei -, die in der Galerie „U Recickych“ neben Karikaturen, Postern und Fotos von letzten Tagen zur Schau gestellt werden. Sie heben sich von den zahllosen anderen Plakaten ab, die zur Zeit Prags Auslagenfenster und Mauerwände zieren. Neben dieser Vielfalt haben sie schon wegen ihrer eintönig roten Schrift keine Chance zu bestehen.