: Wenig Reformen - mehr Konsum
13.Fünfjahresplan im Kongreß der Volksdeputierten umstritten: Eiertanz zwischen Markt und Plan / Popow: „Administrative Narkose werde kaum ein Jahr vorhalten“ / Umstellung der Rüstungsbetriebe auf Konsumgüterproduktion bringt nicht erhoffte Erleichterungen ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Mittwoch setzten die Abgeordneten des Kongresses der Volksdeputierten in Moskau ihre Arbeit zu ökonomischen Fragen in drei Untergruppen fort, die auch noch am Donnerstag tagen werden. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei kurzfristige Maßnahmen zur Gesundung der Sowjetwirtschaft, denen auch Ministerpräsident Ryschkow am Dienstag einen zentralen Teil seines Plenarreferates zum 13. Fünfjahresplan gewidmet hatte. Ryschkow operierte dabei sozusagen ohne gesetzgeberisches Netz, weil Gesetze, die Voraussetzungen für eine neue Art des Wirtschaftens schaffen sollen, nicht in die Tagesordnung des Kongresses aufgenommen wurden. Der von Ryschkow vorgestellte Plan besteht aus zwei Etappen: Bis 1992 soll „sich jede Lenkungsmaßnahme“ wie eine starke Kürzung der staatlichen Banknotenemission mit einer Erhöhung der Konsumgüterproduktion einhergehen. In einem zweiten Stadium von 93 bis 95 sollen weitergehende Schritte in Richtung auf eine Marktwirtschaft unternommen werden. Der Markt solle ein unverzichtbarer Bestandteil des sowjetischen Wirtschaftssystems werden, dabei müsse aber die führende Rolle des Planes gewahrt bleiben.
Diese „administrative Narkose“ werde wohl kaum ein Jahr vorhalten, meinte der Wirtschaftswissenschaftler Gawril Popow in der anschließenden Debatte und plädierte für radikalere Maßnahmen: Man könne den Markt nicht „stückchenweise“ einführen. Noch weiter ging der weltberühmte Augenarzt, das Akademiemitglied Fjodorow: Er forderte die Regierung auf, die Übergabe der Betriebe an die Arbeitskollektive sofort und „maximal“ zu unterstützen. Seine eigene Operations- und Forschungsstätte, die nach diesem Prinzip arbeitet, bringt dem Staat jährlich Millionen harter Dollar ein. Auf ein Mißverständnis zwischen Theorie und Praxis machte der populäre Flugzeugkonstrukteur Genrich Nowoschilow aufmerksam. Ryschkow war davon ausgegangen, daß die Konsumgüterproduktion schnell mit Hilfe umorganisierter, ehemaliger Rüstungsbetriebe gesteigert werden kann. Nowoschilow wies dabei auf ein Paradox hin: So seien Militärflugzeugfabriken mit großer Mühe auf die Herstellung von Makkaroniverpackungen umgerüstet worden, während das Chaos in der Zivilluftfahrt täglich größer würde, weil es an Personentransportmaschinen mangelt. Auf die Neigung vieler Abgeordneter des Kongresses, sich durch die Erwähnung kleiner, lokaler Probleme vor ihren Wählern zu profilieren, spielte am Dienstag die sibirische Spinnereiarbeiterin Nina Dedenewa an. Sie wies darauf hin, daß vor allem die Frauen unter den wirtschaftlichen Mißständen zu leiden hätten, und stellte die Frage, ob nicht ein landesweiter Frauenstreik dem diffusen Gerede abhelfen und der Wirtschaft auf die Sprünge helfen könnte. „Wir haben genug von den Losungen, es ist Zeit, die Dinge konkret anzupacken!“ sagte sie unter donnerndem Applaus.
Wolgadeutsche dürfen zurück in die Heimat
Der Oberste Sowjet will das von Stalin an den Wolgadeutschen und Krimtataren begangene Unrecht wiedergutmachen. Am 28. November soll das sowjetische Parlament beschlossen haben, den zwangsausgesiedelten Volksdeutschen die Rückkehr in ihre alten Siedlungsgebiete zu ermöglichen. Aus Sorge vor negativer Reaktion der jetzigen Bewohner auf der Krim und an der Wolga soll, laut 'Tass‘, der Beschluß nicht veröffentlicht worden sein. Nach Angaben des Vorsitzenden des Nationalitätensowjets, Rafik Nischanow, habe der Oberste Sowjet die Regierung damit beauftragt, eine Kommission zu bilden, die die einzelnen Etappen für die Rückkehr der Wolgadeutschen und Krimtataren ausarbeiten soll. Es ist beabsichtigt, die Gebiete auszusparen, in denen der Widerstand gegen die Umsiedlung der Deutschen am stärksten ist. Jetzt müsse geklärt werden, wo die Angehörigen beider Nationalitäten siedeln können, doch könne dies zehn Jahre dauern, sagte Nischanow.
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