: Deeskalation stand nicht im Tagesbefehl
■ Knüppeleien und massive Polizeipräsenz beim ersten großen Kiezmarsch in SO36 nach der Öffnung der Mauer / Zehn Festnahmen, zahlreiche verletzte Demonstranten und 14 verletzte Polizisten / Zahlreiche Ostbesucher bestaunten live die „Chaoten aus'm Fernsehen“
Zu einer „lebendigen Stadtteildemo“ hatten die Veranstalter des ersten großen Kiezmarsches nach der Maueröffnung aufgerufen. Gekommen waren rund 2.000 Menschen. Ein Stalinplakat führte gleich zu Beginn zu einem mittleren Streit bei den Veranstaltern. Vom Mörder Tausender aufrechter Kommunisten und Anarchisten distanzierte sich dann auch die große Mehrheit.
DDR-Touristen blieben erschrocken stehen, als sich der Zug in Bewegung setzte. „Det sinn de Chaoten aus'm Fernsehen“, klärte ein Herr seine Frau auf. Ost-Herthafans flüsterten was von „blöden Kommunisten“ und machten sich dann aus dem Staub. Seit mittags waren starke Polizeikräfte in SO36 zusammengezogen. Deeskalation stand für jeden sichtbar nicht im Tagesbefehl. Links und rechts von Polizisten eng eskortiert, schob sich der Zug unter Ton-Steine-Scherben -Klängen die Falkensteinstraße entlang. Aus weihnachtsgeschmückten Fenstern heraus lasen Anwohner die Forderungen und Parolen von den vielen Spruchbändern: „Tanz in den Hütten - Krieg den Palästen“, „Für Ausländerwahlrecht“, „Gegen Kiezzerstörung“, „Hände weg vom Kinderbauernhof“ oder „Herrenhäuser sprengen, Frauenhäuser bauen“. Immer wieder die Rufe in Richtung Polizei: „Haut ab, haut ab!“, die die Kampftruppe aber ignorierte. An der Ecke Muskauer-/Manteuffelstraße fühlten sich einige schwergerüstete Polizisten von drängelnden Demonstranten bedroht. Nach kurzem Geschiebe zogen sie die Holzknüppel und schlugen schnell und rücksichtslos in den Zug hinein. Dabei gab es den ersten Verletzten. Doch der Zug ging weiter. Die Angst, daß Kreuzberg nach der Maueröffnung „vom lebenswerten Kiez zum vergnügungssüchtigen Touristenviertel umgestaltet wird...“, erklärt die aggressive Stimmung, in der sich viele befinden: „Ihr habt die Kohle und die Macht, bis es unterm Auto kracht“, oder „Bullen üben fleißig für ein neues '33“. Eine türkische Antifa-Gruppe verteilte Flugblätter gegen ausländerfeindliche Hetzkampagnen der „Republikaner“ und der CDU. Am Anfang der Naunynstraße beendete eine Baustelle den Fußweg und zwang das Polizeispalier, auf die Straße zu treten. Die Demonstranten, die das mit lauten Pfiffen und „Bullen-raus„-Rufen verhindern wollten, wurden von Polizeischilden zusammengedrängt. Blitzschnell löste sich dann im Gedränge ein Truppe Polizisten und prügelte wieder in die Masse hinein. Knallfrösche und Bierbüchsen flogen in Richtung Polizei. Verletzte wurden weggetragen. Eine Türkin hielt sich schmerzverzerrt die linke Hand, ein Mann seinen Oberschenkel. Türkische Kids trampelten auf einem Container und riefen den Polizisten „Wichser!“ entgegen. Holz- und Gummiknüppel prasselten darauf auf die Demonstranten nieder.
Aus einem Fenster wurde ein Plakat gehängt: „Weder Kohl noch Krenz / noch Daimler Benz“. Am Kottbusser Tor fand die Demo ihren Abschluß. Ein Redner warf dem rot-grünen Senat noch einmal vor, „nichts gegen den drohenden Ausverkauf des Kiezes zu tun“, und machte Innensenator Pätzold für die „sinnlose Polizeigewalt“ verantwortlich. Auf den Durchruf des Demowagens, daß jeder den Platz am Kottbusser Tor trotz des Polizeirings verlassen könne, antwortete ein beamteter Vermummter hinter meinem Rücken: „Wer sagt denn dette?“, worauf höhnisches Gelächter seiner Kollegen folgte. Die Polizeibilanz: 14 verletzte Beamte, zehn Festnahmen, Sachbeschädigungen. Zwei der Festgenommenen sollen dem Haftrichter vorgeführt werden.
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