: Ansichten eines Westdeutschen
Patriotisch ist, wer sich zu den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er lebt und aufgewachsen ist, bekennt, was durchaus auch kritisch sein kann.
Ich bin in einer kapitalistischen Gesellschaft aufgewachsen, die jahrzehntelang noch feudalistisch geprägt war. Die Ausgebeuteten konnten oder wollten sich nicht von ihrem Joch befreien. Die Ausbeuter verdrängten die Warnungen vor einer unmenschlichen Gesellschaft (zum Beispiel von Karl Christian Planck) und hofften, die soziale Frage vergessen zu machen durch Schaffung einer nationalen Frage zu einem Zeitpunkt, als die Welt schon in Nationen aufgeteilt und diese Frage angesichts des für den Kapitalismus notwendigen freien Weltmarktes schon obsolet war. Doch diese Ablenkung hatte bei den Ausgebeuteten Erfolg.
Deshalb steht in Westdeutschland die Wiedervereinigung auf der Tagesordnung, aber nicht die Abschaffung des Kapitalismus.
(...) Warum können die Deutschen ihre verhängnisvolle Rolle, die sie in der Geschichte Mitteleuropas gespielt haben, nicht einmal ins Positive wenden, indem sie die künstlich geschaffene nationale Frage aufgeben und sich zu ihrem jeweiligen kleinen Kulturkreis bekennen, aus dem sie kommen? Warum sollte daraus nicht ein Modell für ein gemeinsames Haus Europa entwickelt werden können? Warum sollte von Europa nicht einmal der Weltfrieden ausgehen, indem es zeigt, daß verschiedene Gesellschaften sich nicht gegenseitig vernichten müssen, sondern sich im freien Wettbewerb und im öffentlichen Dialog entwickeln und voneinander lernen können? Europa als eine Sammlung kleiner, kulturell autonomer Einheiten, die sich zu größeren wirtschaftlichen Einheiten zusammenschließen und die eine gemeinsame Weltpolitik betreiben: globale Ökologie, Ausgleich zwischen Nord und Süd, Abrüstung, Lösung der sozialen Frage. Das ist gefragt und nicht die deutsche Nation, sage ich als Westdeutscher.
Karl-Heinz Thier, Hamburg
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