: Frauenbewegung - „versunkene Kultur“
■ Endlich! / Elisabeth Meyer-Renschhausen hat den Bremerinnen ihre Geschichte geschrieben
Die „alte“ Frauenbewegung, die von zwischen 1800 und 1933, wird gerne in vier Kästchen sortiert. Das ist übersichtlich und vergleichsweise leicht zu behalten: Da gab es also erstens die „proletarischen“ Frauen a la Clara Zetkin und zweitens die „bürgerlichen“. Diese „bürgerlichen“ wiederum werden gerne weiter unterteilt in „radikale“ a la Anita Augspurg und in „konservative“, welche leider meistens in der Mehrheit waren.
Das dickleibige, zartlila Grundlagenwerk, das im November 1989 über die Geschichte der Bremer Frauenbewegung erschienen ist, bricht völlig mit diesem Raster-Denken. Die Autorin Elisabeth Meyer-Renschhausen nähert sich ihrem Gegenstand mit umtriebiger Neugier - und mit großer Vorsicht. In ihrem ersten Kapitel schreibt sie: „Ich denke, daß wir in der Betrachtung der Geschichte der Frauenbewegung weiter kommen, wenn wir sie zunächst einmal wie eine uns völlig 'fremde Kultur‘ betrachten, in der von der Religion und der Weltanschauung bis zum Alltäglichen alles nach eigenen Regeln organisiert ist. Das zu tun, bedeutet, daß ich als Ethnographin von der Kleidertracht bis zur Sprache alles erkunde. Ich muß jede Scherbe, die ich finden kann, aufnehmen und abklopfen, um so meiner 'versunkenen Kultur‘ auf die Spur zu kommen.(...)“
Und das - was Elisabeth Meyer-Renschhausen auf 408 Seiten ausbreitet - ist tatsächlich eine
Hier das runde Foto von einer alten Frau
Ottilie Hoffmann, Führerin der abstinenten Frauen
„versunkene Kultur“. Die steinernen Überreste, die bis heute davon stehen, können nicht mehr für sich sprechen, bedürfen der Interpretation. Wer denkt schon beim Anblick des „Rot -Kreuz-Krankenhauses“ in der Bremer Neustadt daran, daß es sich bei seiner Gründung 1875 um ein Kompromiß-Projekt gehandelt hatte zwischen städtischen Honoratioren und Feministinnen, die Frauen ein neues Arbeitfeld eröffnen wollten...
Doch was die „versunkene Kultur“ Frauenbewegung so schwer begreiflich macht, ist, daß sie sich nicht nur in vergleichsweise leicht nachvollziehbaren Bestrebungen erschöpft, wie dem Kampf für eine weibliche Teilhabe in Ausbildung und Beruf oder für das Frauenstimmrecht. Nein, unsere Vorfah
rinnen haben außerdem noch in der „Mäßigkeits-“ und Abstinenzbewegung“ gewirkt sowie die „Sittlichkeitskampagne“ geführt. Sie haben ihre „soziale“ Arbeit als „sozialreformerische“ Tätigkeit gesehen, für die sie Frauen als die geeigneteren ansahen. Die Frauenbewegung betrachteten sie, so Elisabeth Meyer-Renschausen, als „eine Art kollektive soziale Praxis“. In jahrelanger Recherche hat die Autorin diese „kollektive soziale Praxis“ aufgedröselt, bis hin zu einzelnen Frauenfreundschaften und bis hin auch zu den kleinsten der umtriebigen Vereinsgründungen. Die „Anti-Alkoholbewegung“ erscheint dann in einem neuen Licht, als das ganz und gar nicht konservative Bestreben von Frauen, die zerstörerische, chauvinistische Trinkkultur jener Zeit aufzubrechen: Sie bauten den Arbeitern alkoholfreie Speisegaststätten, um zu verhindern, daß diese ihren Lohn am Zahltag weiter vertranken, ihre Frauen und Kinder hungern ließen, verprügelten und vergewaltigten. Auch die „Sittlichkeitskampagne“ erweist sich bei näherem Hinsehen als ganz und gar nicht „konservativ“ oder „merkwürdig“. Unsere Vorfahrinnen gaben orientierungslosen jungen Landmädchen Adressen engagierter Städterinnen in die Hand, um sie vor Verführung, Vergewaltigung und Prostitution zu bewahren. Sie gründeten Hilfsorganisationen und Mutter -und Kind-Heime, forderten Polizeifürsorgerinnen. Sie starteten Kampagnen gegen den Paragraphen, der es der
Polizei erlaubte, jede ihnen verdächtig erscheinende Frau auf der Straße aufzugreifen und gynäkologisch auf Geschlechtskrankheiten zwangsuntersuchen und einsperren zu lassen...
Wer diesen unseren Ahninnen selbst auf die Spur kommen will, sollte sich das umfangreiche, flott und mit zärtlicher Liebe zum Detail geschriebene Werk unter den Weihnachtsbaum legen lassen. In
vier bis fünf weihnachtlichen Tagen und Nächten dürfte die Enkelin von heute mit dem zartlila Wälzer „durch“ sein, und gleichzeitig eine Reihe von Vorurteilen los sein.
B.D.
Elisabeth Meyer-Renschhausen: Weibliche Kultur und soziale Arbeit. Eine Geschichte der Frauenbewegung am Beispiel Bremens. 1870-1927. Köln, Wien 1989.
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