piwik no script img

„Die Schüler lachen sich kaputt...“

■ Neues Klima an Ost-Berlins Schulen: Ganz normale „alltägliche Frechheiten“ einerseits - und harsche ernsthafte Kritik an den Pädagogen des alten Regimes andererseits / Umdenken bei Lehrer und Schülern / Und immer lockt der West-Ausflug...

In den Ostberliner Schulen geht es drunter und drüber. Nicht in allen, das Chaos hängt mit der Geographie zusammen. Je weiter eine Schule vom nächsten „Ausgang“ in den Westen entfernt liegt, desto schlechter ist die Disziplin. Ganz schlecht steht es um die Ordnung in Marzahn. 51 polytechnische Oberschulen gibt es in dieser riesigen Trabantensiedlung, eine davon ist die Bruno-Leuschner -Schule. 450 Schüler zwischen sechs und siebzehn Jahren sollen dort Tag für Tag Mathe, Deutsch und Geschichte lernen, „auf das Leben vorbereitet werden“.

Jetzt ist es schwierig geworden mit dem „Erziehungsauftrag Leben“, erzählt Maria Mann, 46 und seit 19 Jahren Lehrerin für die Fächer Russisch und Sport. Fast jeden Abend gehen vier, fünf ihrer Schüler in den Westen, „nur mal, um zu gucken“, und kommen abends müde heim. Ausgeschlafen wird dann in der Russischstunde, und die Lethargie steckt an. „Ich glaub, mich tritt ein Pferd“, empört sie sich, genau diese schulweit bekannten Schlafmützen haben letzte Woche vor dem Haus des Lehrers gegen den Pflichtunterricht Russisch demonstriert, sie wollten lieber Englisch lernen.

Ganz andere Sorgen hat der Lehrerabsolvent Klaus Mehlig, 27. Er unterrichtet seit einem Jahr Geschichte in der Werner -Steinbrink-Schule. Seit dem 9. November kann er die vom Ministerium für Volksbildung herausgegebenen Unterrichtsmaterialien nicht mehr benutzen. „Die Schüler lachen sich kaputt, wenn sie lernen sollen, daß es von der deutschen Revolution 1848 über die Novemberrevolution 1918 zur Gründung der DDR 1949 einen konsequenten Weg gab.“ Sie reden viel lieber über den November 1989. Da gehen dann die Meinungen hoch her, und viel Bitterkeit und Aggressivität gegen die alten Autoritäten Schule und Elternhaus ist zu spüren. „Die Lehrer und Väter sind für die Schüler einfach unglaubwürdig geworden, sie werden gefragt, warum sie denn immer nur heimlich dagegen waren.“ Klaus Mehlig zieht Parallelen zu seinen eigenen Fragen an die Eltern und Großeltern, auf die er auch nur glatte Antworten bekam. „Der Faschismus wurde in der DDR von Amts wegen bewältigt, das autoritäre Denken und die Angst vor Unordnung“ sind gleich geblieben. Mit dieser Erfahrung im Kopf versucht jetzt der junge Referendar Unterricht zu machen, versucht ehrliche Antworten zu geben und übt Nachsicht gegen die „alltäglichen Frechheiten, die heute zur Tagesordnung gehören“. „Früher“, erzählt er, „wären wir, wenn die Schüler während des Unterrichts einfach aufstehen und rausgehen, zum Direktor gegangen. Der Schüler hätte eine Eintragung in seine Kaderakte erhalten, der Zugang zu einer abiturführenden Schule, dem EOS, wäre damit verbaut gewesen. Das hat gewirkt.“ Heute würden solche Repressalien nur noch lächerlich wirken. Die Kaderakten, in der mit buchhalterischer Genauigkeit die gesellschaftlichen Aktivitäten erfaßt werden, haben den disziplinarischen Wert verloren. Auf der letzten FDJ-Leitungsversammlung haben die FDJ-Klassensekretäre gefordert, daß die Akten den Schülern zurückgegeben werden.

Die Kaderakten verbrennen?

Nicht ganz so moderat sind die Schüler der Clara-Zetkin -Schule in Friedrichshain. Sie wollen, daß die Akten verbrannt werden, und zwar „subito“. Der Direktor, ein linientreuer SED-Parteigenosse, soll „ab ins nächste Kombinat“ und der ganze Schulplan entrümpelt werden. Unter der Hand wird das auch schon gemacht. In der Clara-Zetkin -Schule wird jetzt versucht, die Schüler mit dem Fach Umweltschutz bei der Stange zu halten. Als Unterrichtsmaterial werden aus dem Westen mitgebrachte Hochglanzbroschüren verwendet. „Zur Not versuchen wir sogar aus der 'Bravo‘ geeignete Themen herauszufischen“, berichtet eine Lehrerin. Noch im September hatte sie eine „Elternaktivversammlung“ einberufen, zwei Schüler, die sich beim Neuen Forum engagierten, sollten mit temporärem Schulverweis diszipliniert werden. Jetzt versucht auch sie Verständnis für die neuen Zeiten aufzubringen, aber es fällt ihr schwer. Sie hat Angst, daß die „antiautoritäre Erziehung“ jetzt Mode wird, „wo doch Grenzen immer sein müssen“. In ihrer Klasse geht es wild zu, und die Krankmeldungen häufen sich. „Die Eltern schreiben Entschuldigungsbriefe, und die Schüler treiben sich in der Stadt, Ost oder West, herum“.

Nur einer für „Heimat DDR“

Anders die Werner-Prochnow-Schule am Prenzlauer Berg. Die Lehrerin Angelika Lustig, 41, schiebt das auf die Infrastruktur des Kiezes, „wo jeder jeden kennt“. Deutsch unterrichtet sie und an offiziellen Lehrplänen hat sie sich dabei oft vorbeigemogelt. Besonders gern unterrichtet sie das Fach „Ausdruckskunde“, dort wird über Berlin nach Öffnung der Grenzen diskutiert. All ihre Schüler waren schon im Westen, und die Entschuldigung „Ich muß mit meinen Eltern nach Hamburg“ akzeptiert sie. In der letzten Stunde wurde über „Wiedervereinigung“ geredet, und das Ergebnis hat sie selbst überrascht. Nur ein einziger 14jähriger Steppke wollte ein Deutschland, „damit die Schaufenster auch hier so bunt werden“, der große Rest von 16 Schülern ist von Ängsten geplagt. Aids und Prostitution, Drogen und Neofaschismus würden dann den Prenzlauer Berg heimsuchen, und „ausverkauft“ würden sie auch werden. Ihre Schüler, erzählt Angelika Lustig mit lachenden Augen, „finden die DDR gut, so wie sie jetzt gerade ist, spannend und lebendig“. Eine Klassenkameradin, die mit ihren Eltern Mitte November in die BRD ausreiste, wurde heftig bedauert. Jetzt gehen viele Briefe hin und her, und die Schilderungen über Notunterkünfte und Schlange stehen auf den Sozialämtern trägt zum wohligen Gefühl „Heimat DDR“ bei. Nicht den Umbruch in der DDR und die Faszination des „goldenen Westens“ macht Angelika Lustig verantwortlich für die Disziplinlosigkeit, „da wird doch nur etwas nachgeholt, was bisher nicht normal war“.

Anita Kugler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen