: Kaufen Sie doch ein Buch
■ Virginia Woolfs „Orlando“, inszeniert von Robert Wilson
Wollen Sie einmal anständig durchschlafen? Dann gehen Sie doch in Orlando, kaum dramatisiert von Robert Wilson, zur Zeit in der Schaubühne Berlin: ein herrlich ruhiger Abend.
Sie betreten das Haus gegen halb neun, hängen Ihren winterschweren Mantel in einen der Garderobenschränke im Untergeschoß (aber Achtung: es sieht nur aus wie in einer Badeanstalt - sie bekommen Ihre zwei Mark nicht zurück!), kaufen der Ordnung halber ein Programm (dort können Sie dann auch, ausgeschlafen, einiges nachlesen) und nehmen Platz. Der Zuschauerraum ist und bleibt angenehm dunkel, die Sitze sind nicht übermäßig bequem, aber ausreichend. Es erwartet Sie ein silbrigblauer Vorhang, der sich schließlich hebt: und Jutta Lampe alias Orlando betritt die Bühne. Diese legt sich auf ein Holzbett (Sie haben es komfortabler) und hebt zu sprechen an: Sie erzählt ihre Geschichte, die Autobiographie des Orlando, der über dreihundert Jahre lebt und über zwei Stunden lang spricht. Er beginnt seine Traumerzählung als junger Mann der Tudorzeit, schreibt Gedichte, tobt sich aus, heiratet eine Zigeunerin, verliebt sich in eine russische Prinzessin, geht von England nach Konstantinopel, verfällt einer stundenlangen rätselhaften Lähmung (wie Sie auch). Er erwacht als Frau, beklagt die ungewohnten Röcke, die soziale Enge seiner Rolle, reflektiert über das Jahrhundert der Queen Victoria und überlebt auch dieses, bis zu dem unseren. Dann wacht sie auf, und der Applaus wird auch Sie wecken. Was haben Sie verpaßt?
Sie versäumten einen mehrfachen Kostümwechsel, jeweils den Zeiten nahtnah angepaßt. Sie versäumten einen diskreten Wechsel ebensolcher Bilder (schwarzer Vorhang, weißer Vorhang, Überlagerungen derselben) und weniger Requisiten (Schrank, Tür, Tisch, Fisch). Sie versäumten langsame, schöne, sich wiederholende Bewegungen der Arme und Beine der Solodarstellerin. Sie versäumten schließlich den Text, den Sie - ungekürzt - in derselben Zeit in Ihrem eigenen Sessel (der vermutlich weicher ist) nachlesen und dabei Ihren eigenen Bildern nachhängen können. Der Roman (im Untertitel „Eine Biographie“), der von der Freundin Virginia Woolfs, Vita Sackville-West, inspiriert wurde, ist nämlich gewitzt, phantasievoll, ironisch, poetisch und satirisch zugleich, ein historisches Rollenspiel mit immensem Charme. Sie haben beim Lesen Gelegenheit, über die Wechselfälle der Liebe und des Schicksals, über die Spiegelungen der Macht in der Formung der Geschlechter nachzudenken und zu lächeln. Aber diese Biographie ist weder reißerisch noch getragen von einem Spannungsbogen, der eine Dramatisierung nahelegen würde. Die unerläßliche Bedingung eines Bühnenmonologes: daß man wissen möchte, wie es weitergeht - entfällt. Zu beliebig erscheint die Aneinanderreihung von Episoden, zu spröde bleiben in der distanzierten Sprache Jutta Lampes die romantisch-ironischen Passagen, zu biedermeierlich wird die Geschichte entrückt. Wenn es denn je ein Plädoyer für das Lesen auf der Bühne gab: dieser Abend ist eines.
Aber nein: Die Schaubühne hat eine umfassende Garderobe, Jutta Lampe eine reizende Figur, Robert Wilson hat viel Zeit. Und eine Vorliebe für Diätmarmelade: die volle Süße erlaubt er sich nicht. Jutta Lampe, entfernt und erhaben, steht rührend allein im Scheinwerferlicht und ist in stofflichen Zucker gehüllt, die Bühne aber (da war doch was?) bleibt leer (bis auf die Vorhänge, natürlich) und unbebildert, denn den Griff ins Volle hat Wilson sich verwehrt. So kontrastiert die tote Bühne die feenhafte Erscheinung, und niemand kann anschließend behaupten, der Kitsch habe nicht wenigstens einen Achtziger-Jahre-Rahmen gehabt, kühl und reduziert wie ein Designermöbel. Die Lesung ohne Textbuch (dabei mikrofonverstärkt) ist Antitheater, nur stehende, schweigende Bilder gibt es zu sehen: Fotograf hätte der Meister werden sollen. Oder Sandmännchen.
Sie reiben sich die Augen, klatschen ein bißchen und holen Ihren Mantel aus dem Schließfach. Und morgen kaufen Sie ein Buch.
Elke Schmitter
Die nächsten Aufführungen sind am 21.12., 1.1. und 5.1.
Im Frühjahr 1990 erscheint „Orlando“ in neuer Übersetzung bei S.Fischer
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