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Weihnachtsralley im Milchwald

■ Dylan Thomas in Hamburg begraben

Dylan Thomas ist eine Legende. Der walisische Dichter, der 1953 als 39jähriger an Leberzirrhose starb, hat ein schmales, aber aufsehenerregendes lyrisches Werk hinterlassen, ein Delirium von Bildern und Assoziationen. Sein einziges Theaterstück „Unter dem Milchwald“ gilt als ein Horrortrip für Übersetzer und eine Eiger Nordwand für jeden Regisseur. Erich Fried hatte es vor 30 Jahren übersetzt, Michael Bogdanow hat es in 4 Wochen Probezeit auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses gebracht.

Aus der Erstfassung als Hörspiel ist dem Stück ein leibhaftiger Erzähler geblieben. Der beschreibt das Leben in einem walisischen Fischerstädtchen, das Leben der kleinen Leute, den Verlauf eines Tages. Der Kurzwarenhändler schreibt einer verheirateten Frau heiße Liebesbriefe, der Briefträger und seine Frau öffnen sie heimlich, ein junges Mädchen träumt von einem Liebhaber, der zu früh starb, ein junger Fischer versäumt sein Leben im Boot, der Dorflehrer will als Barde unsterblich werden... Zum Personal gehören Metzger, Witwen, Säufer, Pfarrer, Leichenbestatter, Frauen beim Dorfklatsch an der Pumpe, Männer in der Kneipe, Ziegen auf der Weide, Hühner im Hof.

Der Erzähler ruft die Personen ins Leben, gibt ihnen zwei oder drei Sätze und läßt sie zurücktreten. Er portraitiert sie als Gruppe oder im Dialog, läßt sie träumen und phantasieren, macht im freundlich lächenlnden Ehemann den grimmen Mörder sichtbar und in der liebenswürdig grüßenden Nachbarin die Hexe. Und die Hühner dürfen gakkern, und die Ziegen können mekkern.

Das ergibt einen bunten Teppich pittoresker Begebenheiten und banaler Situationen, einen Chor aus lauter schrägen Gestalten. Seinen Dirigenten, den Erzähler, plaziert Bogdanow seitlich an einen Tisch, Guiness trinkend und schreibend. Offensichtlich schreibt er das Stück zu Ende, oder gar eine Fortsetzung? Ein zweiter Erzähler tummelt sich - zur Entlastung - auf der Szene, einer Schrägen, die fast die gesamte Bühne einnimmt. Die fünf Kollegen spielen das Volk, 38 satte Rollen. Sie haben Schwerstarbeit zu leisten. Blitzschnell müssen sie sich verwandeln, von einem Priester in einen Leichenbestatter, von einem Leichenbestatter in eine Leiche, von einer Witwe in eine Liebende, von einer Liebenden in eine Geliebte, von einer Teekanne in eine Teetasse in einen Teekocher, vom Huhn zur Ziege zur Kuh und rückwärts, das Ganze: marsch!

Wofür Marcel Marceau ein Leben brauchte, das muß die Schauspielhaustruppe in ein paar Wochen draufhaben. Man kennt die Talente, man sieht die Begabungen, und man wünscht sich, sie alle in einem Stück zu sehen, richtige Figuren, sorgfältig gearbeitet. Stattdessen - Schnellzeichner, die nach der Stoppuhr flüchtige Skizzen abliefern. Man möchte der Sprache von Dylan Thomas zuzuhören, die einem den Boden unter den Füßen wegzieht, die mit einem Achterbahn fährt, die einen verführt, einschläfert und dann in den Abgrund schleudert. Le Bateau ivre. Nein: eine ganze Flotte. Aber der Regisseur traut nicht den Delirien der Poesie, er hat die Flasche fest verkorkt. Was bleibt, sind Pointen und flache Scherze, walisische Chöre und Kleinstandtfolklore, das Leben ist ein einziger Sketch, im Milchwald findet eine Ralley statt.

Ob Dylan Thomas‘ Stück es verdient, auf die Bühne zurückzukehren, ist fraglich. Es hatte seine Funktion darin, in den 50er Jahren, die Leiche Theater zu zersetzen und zu verwesen. Es hat - wie das expressionistische, das epische, das arme Theater - neue Sicht- und Spielweisen ermöglicht. Nicht verdient es aber, als Weihnachtsmärchen mißbraucht zu werden, für toute la famille, von 6 bis 60.

Hannes Heer

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