: "Appell an die Vernunft"?
■ Betr.: Brief an das 'Neue Deutschland'
Brief an das 'Neue Deutschland‘
Eine Sache muß weit heruntergekommen sein, wenn sie sich genötigt sieht, „an die Vernunft“ zu appellieren. Und an wessen Vernunft wird da wohl appelliert? Doch wohl nicht ernsthaft an die Vernunft der Millionen „mündiger“ DDR -BürgerInnen, die ihre Autos rücksichtslos auf Gehwegen, auf frisch bearbeiteten Ackerflächen und in Grünanlagen abstellen, die dann fasziniert offenen Mundes durch die Billigfilialen von Aldi und Ullrich hasten und sich bei Kaiser's um eine zugeworfene Kaffeetüte rangeln?
Ach, wir seit 40 Jahren Gutgläubigen und Gutmeinenden, wir unermüdlichen WeltverbesserInnen - unser sozialistisches Experiment ging doch auch so vor die Hunde, die Mafia in „Partei- und Staatsführung“ hat den Zusammenbruch nur etwas beschleunigt. Wachen wir doch endlich auf, wir TräumerInnen von einer humanen Gesellschaft: Das Leben lehrt mit aller Schärfe, daß es offensichtlich nicht möglich ist, die psychischen und physischen Zwänge, die in Ausbeutergesellschaften auf die ProduzentInnen wirken, durch das Bewußtsein zu ersetzen. Für die von Marx, Lenin, Luxemburg, noch vielen anderen und uns angestrebte Gesellschaftsordnung ist ein Menschentyp erforderlich, den es nicht oder nur in zu geringen Stückzahlen gibt, und sein ohnehin bescheidener Einfluß auf den Gang der Geschichte nimmt ab.
Welche Rolle mag die verzweifelt beschworene Vernunft wohl bei den einsamen und unerforschlichen Ratschlüssen unserer bisher durch nichts legitimierten Selbstherrscher spielen? Hielt ich schon die überhastete Öffnung unserer Grenzen in Richtung Westen für eine politisch-moralische Katastrophe (und die Fluchtbewegung hat sie bisher nicht wirksam eingedämmt), so gibt uns die ab 1.Januar 1990 oder womöglich noch früher vorgesehene Öffnung unserer Grenzen aus Richtung Westen den ökonomischen Rest. Haben denn unsere Selbstherrscher wirklich vergessen, wie das vor dem 13. August 1961 war? Wir fallen in die gleiche Situation zurück, nur daß der Niveauunterschied zwischen Ost und West noch krasser geworden ist. Es bedarf keiner Spur von Phantasie: Spätestens ab Januar 1990 geraten wir in der DDR Verbliebenen zu einem Volk von verachteten BilliglohnarbeiterInnen. Selbst die Zeitungen der Partei, die sich „sozialistisch“ nennt, berichten angeregt über die unverstellte Gier bundesrepublikanischer Konzernmanager, sich unserer verrotteten „volkseigenen“ Betriebe hilfreich anzunehmen, und unsere Selbstherrscher beeilen sich, die gesetzlichen Möglichkeiten für den zu erwartenden „Gewinntransfer“ zu schaffen.
Über Fidel Castro kann man denken, was man will. Aber womit will man sein Argument abtun: „Der Imperialismus lädt heute die sozialistischen Länder Europas ein, seinen Kapitalüberschuß zu übernehmen und an der Ausplünderung der Länder der Dritten Welt zu partizipieren.“ - Recht hat der Mann!
Wie weise war Engels letzter Wille, seinen Leichnam verbrennen und die Asche ins Meer streuen zu lassen - der bedauernswerte Marx dagegen wird sich unter seinem Stein auf dem Highgate drehen...
Jürgen Klussmann, Berlin-Ost
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