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Lafontaine entdeckt Achillesferse der CDU

Der stellvertretende SPD-Vorsitzende bringt Stimmung in den Berliner Parteitag / Profilierungsversuch als Kanzlerkandidat / Delegierte: Der wird's - oder er kann es zumindest werden / Vogel: Felle schwimmen davon  ■  Von Charlotte Wiedemann

Berlin (taz) - „Wir brauchen nur auf diesen Erdball zu schauen“, ruft Oskar Lafontaine in das Raumschiff des Berliner Congress Centrums hinein und weist auf die Fototapete, die die Stirnwand der Halle ziert, „und wir stellen fest, für welchen begrenzten Raum wir gestern politische Konzepte diskutiert haben.“ Der stellvertretende Parteivorsitzende profiliert sich an diesem Morgen mit Gegenakzenten zur Deutschland-Debatte des Vortags - der Auftakt zur Diskussion des neuen Grundsatzprogramms soll es sein, doch es ist vor allem eine Darstellung des rednerischen Geschicks eines Mannes, den manche schon für „angeschlagen“ hielten.

Nach eineinhalb Stunden freier Ansprache verläßt Lafontaine das Rednerpult vor dem blauen Firmament, mehr als die Hälfte der Delegierten applaudiert ihm stehend, und die Reaktionen lauten: „Er wird's“, oder zumindest „er kann es werden“ der Kanzlerkandidat. Diesen Eindruck verdankt er vor allem seinem rethorischen Geschick. Kaum einmal auf Stichworte schauend redet er sich langsam warm.

Lafontaine bringt Bewegung in diesen Parteitag, der bisher zwischen nationalem Pathos und Schläfrigkeit hin- und herdümpelte. Weniger mit seiner speziellen Freiheitsphilosophie, diesem Verschnitt aus Keynes, Camus und Sammy Davis junior, sondern mit der weltweit ausholenden Skizze sozialdemokratischer Aufgaben. Zum Beispiel die „globale Aufgabe“ Nummer eins: „Die Bekämpfung des Hungertodes“, es folgen die ökologische Zerstörung, die atomare Vernichtung, die soziale Gerechtigkeit. Kleinlich muß da wirken, wer nur ans eigene nationale Deutsche denkt. Er, Oskar, habe nämlich „nie in erster Linie in staatlichen Kategorien gedacht“. Vergessen scheinen ihm selbst seine Interview-Äußerungen, die staatliche Einheit Deutschlands sei ein „Zwischenschritt“ zur europäischen Einigung. Jetzt, vor der eigenen Partei, gilt, andere Akzente zu setzen: „Die Menschen interessiert in erster Linie, wie es ihnen geht.“ Daher müsse die soziale Gerechtigkeit Vorrang haben. Entscheidend sei, wie sie für die Bundesrepublik und für die DDR organisiert werde. Es dürfe nicht übersehen werden, daß in der Bundesrepublik Arbeitslosigkeit steige und Wohnungsnot zunehme. „Was vor der Öffnung der Grenze richtig war, ist heute falsch“, unterstrich der saarländische Ministerpräsident. Die Union, die die jungen Übersiedler aus der DDR begrüßt habe, weil sie in der Bundesrepublik zur Sicherung der Renten beitrügen, habe vorrangig die Interessen diesseits der Grenze im Sinn.

Dies sei die „Archillesferse der Konservativen“ und „hier können wir sie jagen“, erklärte Lafontaine. Beifall brandet auf, nur beim Parteivorsitzenden Vogel nicht. Der ist während der Rede mit fortlaufenden Notizen beschäftigt, schaut kaum einmal zum Redner hin und stimmt in das Klatschen des Auditoriums höchstens dann ein, wenn es wirklich auch alle anderen tun.

Eine Rede als „bewußt gestylter Weg zur Kanzlerkandidatur, wie die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies später anmerkt? Lafontaine jedenfalls meidet genau jene rechts -populistischen Töne, die Anleihen bei fremdenfeindlichen Ressentiments, mit denen er in den vergangenen Wochen aufgefallen war.

Hier tritt nicht der Sprecher aller Stammtische auf, sondern der saubere Sozialdemokrat, der für alle nur das Beste will: daß es in der DDR „alle warm haben und in der Dritten Welt niemand hungert“. Für alle das Beste, nicht nur weltweit, sondern auch für die verschiedenen Segmente seiner Partei. Da wird jeder ein bißchen bedient, auch der Gewerkschaftsflügel: „Wir als Zweig der Arbeiterbewegung“, ruft Lafontaine, und da gibt es schon wieder Beifall.

Seine Anhänger sind begeistert, seine Kontrahenten können nichts Schlechtes an der Rede entdecken. Alles sei „stimmig gewesen“, räumt Herbert Ehrenberg ein, der ehemalige Arbeitsminister vom rechten Parteiflügel. DGB-Chef Breit findet, Lafontaine habe „Spannungen abgebaut“ und „vernünftige Grundlagen für alle gelegt“. Manche, die noch vor kurzem in heftiger Fehde mit dem Saarländer lagen, beeilen sich nun mit der Versicherung, „grundsätzlich seien diese Differenzen ja nie gewesen“.

Aber Erfolge sind vergänglich in dieser schnellebigen historischen Zeit. Vor den DDR-Wahlen am 6. Mai solle nicht über den Kanzlerkandidaten (West) entschieden werden, heißt es in der Partei. Der Wettlauf um gesamtdeutsche Stimmungen und Stimmen drüben kann nun auch darüber entscheiden, wer sich für den Stimmenfang hüben am besten qualifiziert.

Und auch das neue Grundsatzprogramm - heute soll es verabschiedet werden - wird nun unter dem Blickwinkel kurzfristiger deutsch-deutscher Verfallsdaten gesehen. Für drei Jahrzehnte sollte es eigentlich gelten, nun meint einer: „Wenn's denn mal für die nächsten zehn Jahre reicht.“ Der blaue Planet ist denn doch vom Berliner Congress Centrum ziemlich weit entfernt.

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