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Weiterhin Schüsse in Temeswar

■ Mehrfache Bestätigung für das Massaker in Temeswar / Angeblich erste Hinrichtungen bei systematischen Hausdurchsuchungen / Protestwelle in West und Ost

Berlin (taz) - Auch gestern ist wieder in Temeswar geschossen worden. Nach Augenzeugenberichten aus Temeswar gehen die Soldaten jetzt dazu über, die Häuser in der Stadt zu durchkämmen und vereinzelt Exekutionen vorzunehmen. Nach Angaben eines Augenzeugen gehen die Sicherheitskräfte systematisch mit Namenslisten vor.

Seit Dienstag haben sich die Informationen über ein Massaker in Temeswar erhärtet. „Ich habe gesehen, wie die Polizei in die Menge schoß. Die Demonstranten fielen um wie Dominosteine. Überall war Blut“, berichtete ein jugoslawischer Händler über das Massaker. Ein rumänischer Arzt berichtete in Graz, Soldaten hätten ohne Vorwarnung in die Menge geschossen. „Die ersten drei Reihen sind tot oder verwundet zusammengebrochen. Es entstand Panik, die einen wollten zurück, die anderen drängten nach.“ In der Nacht sei bis 4 Uhr früh Maschinengewehrfeuer zu hören gewesen. Ein griechischer Augenzeuge sprach von 600 Toten, rumänische Ärzte inoffiziell von über 500. Nach Angaben des ungarischen Rundfunks sollen allein in einer Klinik 250 Tote liegen. Unter den Toten seien auch mehrere Kinder. Die Zahl der Verletzten geht in die Hunderte. Berichten zufolge wurde auch aus Hubschraubern mit Maschinengewehren geschossen. Auch in Arad sei scharf geschossen worden. Nach wie vor sind beide Städte von Militär umstellt, Streifen patrouillieren in den Straßen. Nach unbestätigten Gerüchten sei der Funke aus Temeswar auch auf andere Städte übergesprungen. In Bukarest würden die Studentenwohnheime von der Polizei überwacht.

Die Grenzen nach Bulgarien, Jugoslawien und Ungarn sind weiterhin für den allgemeinen Verkehr geschlossen. Nur Rumänen und sowjetische Staatsbürger dürfen einreisen. Andere Ausländer werden abgewiesen. Der organisierte Reiseverkehr zwischen der DDR und Rumänien wurde eingestellt.

Unterdessen verstärken sich die Proteste aus dem Ausland gegen das Ceausescu-Regime. Lech Walesa hat die Weltöffentlichkeit und insbesondere die Friedensnobelpreisträger zu gemeinsamen Protestaktionen gegen das „unmenschliche Regime“ aufgerufen. Einstimmig verurteilte der polnische Sejm den Terror in Rumänien. Zehntausend demonstrierten am Montag abend in Budapest vor der rumänischen Botschaft. Das ungarische Parlament beschloß am Montag, den Temeswarer Pastor Laszlo Tökes, dessen Verhaftung der Anlaß für die Demonstrationen in Temeswar war, und die Bürgerrechtlerin Doina Cornea für den Nobelpreis vorzu Fortsetzung auf Seite 3

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schlagen. In einer Erklärung fordert die „Initiative Solidarität mit Rumänien“ des Neuen Forums in der DDR den sofortigen Abruch der diplomatischen Beziehungen zu dem „Verbrecher Ceausescu“ und Asyl für rumänische Bürger. Der sowjetische Außenminister Schewardnadse hat die Ereignisse in Rumänien in einem ersten Kommentar als „unerfreulich“ kritisiert, ohne jedoch konkrete Maßnahmen gegen das Ceausescu-Regime anzukündigen.

Auch im Westen kommt die Protestwelle in Gang. Die Grünen im Bundestag forderten die Bundesregierung auf, den deutschen Botschafter aus Bukarest zurückzurufen. Ein Sprecher der französischen Liberalen forderte den Totalboykott Rumäniens. Die EG verurteilte das Vorgehen der rumänischen Behörden und erinnerte das Regime daran, die KSZE-Akte zur Einhaltung der Menschenrechte unterschrieben zu haben. Auch in Österreich gab es Proteste und eine Demonstration gegen Ceausescu. In Berlin ist vom Menschenrechtskomitee Rumänien für Donnerstag um 19 Uhr zu einer Demonstration vor dem rumänischen Konsulat aufgerufen worden.

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