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Kohlsches Bad in schwarz-rot-goldener Menge

Bei seinem Besuch in Dresden wurde der Bundeskanzler gestern von Tausenden mit Hochrufen und „Deutschland-Deutschland„-Parolen empfangen / Am Vortag demonstrierten 30.000 für ein „einig Vaterland“ / Eine der Parolen: „Rote raus“ / „Jetzt können wir wieder nicht unsere Meinung sagen“  ■  Aus Dresden Vera Gaserow

Dem Kanzler muß es ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk und eine späte Genugtuung gewesen sein. Hatten ihn Anfang November noch Zehntausende vor dem Schöneberger Rathaus gnadenlos ausgepfiffen, so ließen ihn Dresdner gestern unter „Helmut-Helmut„-Rufen hochleben. Rund 5.000 Menschen hatten Kohl schon früh morgens vor seinem Hotel ein Bad in einem Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen bereitet.

„So ein Tag, so wunderschön wie heute“, hallte es dem Kanzler entgegen, und der mag sich heimlich diesem Sprechchor nur allzugern angeschlossen haben. Verschwindend klein war das Grüppchen, das sich traute, die DDR-Fahne zu schwenken. Nur vereinzelt auch fand man gestern früh noch intakte Plakate an Dresdener Bauwänden und Mauern, auf denen sich nächtliche Klebekolonnen über den „Deutschlandfurz von Coca-Cola-Kohl“ lustig gemacht hatten oder anregten: „Wollt ihr den totalen Wohlstand - freßt Kohl.“ Das Gros der phantasievollen Plakate und kleinen Aufkleber lag schon nach wenigen Stunden zerfetzt am Boden, und die wenigen Leute, die mit kleinen Schildchen vor dem Ausverkauf der DDR warnten, wurden beinahe demonstrativ von mehreren Ordnern mit beschwichtigenden „Keine-Gewalt„-Schärpen geschützt.

Helmut Kohl ist in eine aggressiv geladene Stadt gekommen, und seine Anwesenheit putscht die Stimmung noch einmal hoch. Doch auch wenn Hunderttausende ihn begrüßen mögen, wären viele doch erleichtert, wenn er schon wieder weg wäre.

„Uns ist das etwas aus den Händen geflutscht“, gesteht Hagen Arnold vom Neuen Forum Dresden ein. „Die Lage ist so gespannt, daß ein Funken genügt. Wir haben Angst, daß jemand in diesen Tagen diesen Funken sucht.“ Schon seit gut zwei Wochen zeichnet sich bei den traditionellen Montagsdemonstrationen in Dresden eine deutliche Polarisierung unter den Demonstranten ab. Denn anders als in Leipzig, wo die Rufer für ein „Deutschland einig Vaterland“ inzwischen fast unter sich sind, waren in Dresden bis zur letzten Woche WiedervereinigerInnen und VertreterInnen moderater und linker Positionen beinahe paritätisch vertreten. Mit dem Kohl-Besuch, so fürchten manche, könnte die Stimmung endgültig umkippen.

Die Spannung, die daraus entstanden ist, daß seit einiger Zeit keine spektakulären Erfolge vorzuweisen sind, könnte sich in einer Auseinandersetzung entladen. Am vergangenen Sonntag haben sich deshalb Vertreter des Neuen Forums, der „Gruppe der 20“ und der SDP darauf verständigt, für den Kohl -Besuch eine „Sicherheitspartnerschaft“ mit der Polizei einzugehen. Rund 3.000 zivile Ordner sollen für Ruhe beim Kanzlerbesuch sorgen. Nicht Mißfallenskundgebungen gegen Kohl oder die Wiedervereinigung seien angesagt, erklärten die Gruppen, sondern ein herzlicher, aber besonnener Empfang für den Gast aus Bonn.

Im unabhängigen Jugendzentrum „Scheune“ dagegen versammelten sich schon am Vortag des hohen Besuchs diejenigen, die keine Veranlassung sehen, den Kanzler zu umjubeln. Mitglieder der „Initiative für eine vereinigte Linke“, versprengte Mitarbeiter des Neuen Forums und der SED, Autonome und einfach Einzelpersonen trafen hier hektische Vorbereitungen für kleine Gegenaktionen. 50.000 Flugblätter mit kritischen Fragen an „Herrn Kohl“ wollten verteilt, Plakate mußten geklebt, Transparente gemalt werden. Und am nächsten Tag, als der Kanzler die Stadt betrat, waren als Resultat nächtlichen Eifers auch gesprühte Warnungen vor dem „vierten Ich“ oder der „Beerdigung der DDR“ zu sehen.

Doch angesichts des „Deutschland-Deutschland„-Trubels wissen sich die linken Gruppen nicht nur in der Minderheit. Sie haben auch Angst vor Angriffen und Anpöbeleien.

„Früher hatten wir Schiß vor der Stasi. Dann konnten wir acht Wochen lang frei unseren Mund aufmachen, jetzt können wir wieder nicht unsere Meinung sagen. Wir werden beschimpft als rote Sau oder als Chaoten“, berichtet Rainer, Ingenieur in einem Elektronikbetrieb. Unter seinen Kollegen ist er „der Linke“, und seit kurzem findet er an seinem Arbeitsplatz anonyme Zettel mit mehr oder minder eindeutigen Beschimpfungen. „Wochenlang bin ich mit einem unheimlich schönen Gefühl von Befreiung zur Montagsdemonstration gegangen“, resümiert er, „jetzt wird es mir dort unheimlich, und ich gehe nur noch hin, um zu gucken, wie die Stimmung ist.“

Am Montag, einen Tag vor dem Kanzlerbesuch, war die Stimmung auf der Demonstration so eindeutig, daß Rainer und seine Freunde die frischgedruckten Flugblätter mit den Fragen an „Herrn Kohl“ lieber in der Tasche stecken ließen. Die Demonstration der rund 30.000 Dresdener war unübersehbar dominiert von schwarz-rot-goldenen Fahnen.

„Wiedervereinigung ist unsere Rettung“, „Alles für ein einig Vaterland“, so prangten die Losungen auf den Spruchbändern, und rhythmische „Deutschland-Deutschland„ -Rufe hallten durch die Stadt. Zwar hat es auch innerhalb der Demonstration eine große schweigende Gruppe von Menschen gegeben, die stumm ihre Kerzen vor sich hin trugen. Aber in dieser Atmosphäre traute sich niemand, den grölenden Deutschland-Rufern etwas entgegenzusetzen. Zum ersten Mal ertönte an diesem Abend auch der Ruf „Rote raus aus der Demo“, aus dem Minuten später schon ein skandiertes „Rote raus“ wurde. Und als auf der Abschlußkundgebung auch der Sprecher des Neuen Forums vor einer linken Hetze gegen Kohl warnte, war sich die Menge endgültig einig. Beifall ertönte an diesem Abend, als der Name Kohl fiel und die Kundgebungssprecher ausdrücklich noch einmal Ort und Zeit der geplanten Kanzleransprache an das Volk mitteilten.

Den größten Beifall der ZuhörerInnen erhielt jedoch nicht der Gast aus Bonn, sondern die Forderung nach einer Währungseinheit mit der Bundesrepublik und nach Einführung der sozialen Marktwirtschaft. Und um ein Haar hätte auch ein anderer Bundesbürger dem Gast aus Bonn die Show gestohlen. Einen Tag vor dem Kanzler nämlich kam der Bertelsmann -Buchklub in Dresden an. In bester Geschäftslage eröffnete der Verlagsmulti am Montag seine erste Filiale und verursachte prompt mehrere hundert Meter lange Schlangen in der Dresdener Innenstadt.

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