piwik no script img

Nicht wie in Erfurt 1970, weil die Rührung fehlte

Die Magdeburger bewunderten den Rhetoriker Willy Brandt - in Ermangelung eines noch besseren / Auf Wunsch der DDR-Sozialdemokraten hatte der SPD-Ehrenvorsitzende ein Bad in der Menge genommen / Sozis hüben und drüben organisierten sich smarte Wahlkampf-Tour  ■  Aus Magdeburg Klaus Hartung

„Ich weiß nicht, wann Magdeburg jemals einen so großen Tag erlebt hat“, rief der vollbärtige Markus Meckel, Sprecher der SDP auf dem Domplatz. Und 70.000 Kehlen antworteten: „Nie, nie.“ Nur eine tapfere Stimme durchbrach das unisono des „Nie“: „Doch, als Thälmann da war.“ Willy Brandt hatte am Dienstag abend den SPD-Parteitag verlassen, auf Bitte der Magdeburger SDP, um ein Bad in der deutschen Einheit zu nehmen, und die Magdeburger waren zusammengeströmt, den deutsch-deutschen Willy zu feiern.

In diesen Tagen, wo die historischen Augenblicke und die geschichtlichen Stunden im Ausverkauf angeboten werden, ragt doch Willy Brandts Auftritt heraus. Sein Geburtstag fiel zusammen mit jener sozialdemokratischen traditionellen Vision, die sich nicht mehr weit von ihrem welthistorischen Ziel sieht. Sozialdemokratische Transsubstantiation, die Fleischwerdung im 76jährigen Leben des Ehrenvorsitzenden: Schon auf dem Parteitag begann es mit der Umarmung durch einen Ex-SPDler, der das „Erfurt-Erlebnis“ 1970 mitgemacht hatte. Erfurt, im Rückblick ein entscheidender Markstein der sozialdemokratischen Mission. In Brandts Rede, die in provozierender Koketterie mit dem Marx-Satz aus der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ konstatierte, daß nunmehr die „Wirklichkeit zum sozialdemokratischen Gedanken“ dränge. Dann der Abend „Europa und die Deutschen“, der ein Abend der Verbeugung der europäischen Kultur vor dem geschichtsgesättigten Geburtstagskind war. Und nun Magdeburg?

Die Menge sang

„Happy Birthday“

Das Treffen mit der Regionalorganisation der SDP brachte Brandt erst einmal auf den Boden der DDR-Tatsachen. Verunsicherte Kreisvertreter der SDP, die sich zunächst einmal selbst ernannt hatten - praktisch noch ohne Partei und nun von den Erwartungen der neuen Mitglieder überfallen werden, wandten sich hilfesuchend an den großen Vorsitzenden.

Die meisten glaubten nicht mehr - bei dem schon mit hohem Tempo anziehenden DDR-Wahlkampf -, daß sie noch Zeit für eine eigenständige Rolle der SDP haben. Schulterschluß mit der Bundessozialdemokratie war gefragt. Inzwischen sang die Menge auf dem Domplatz „Happy birthday“. Eine unsägliche Singegruppe der Wendezeit sang das Lied „28 Jahre Mauer“: „Wieviehiel Wuhunden hat Siehie gerissen, die auch die Zeiheit nicht mehr heiheilen kann“. Wenig schwarz-rot -goldene Fahnen. Gar drei Fahnen mit Hammer und Sichel und Ährenkranz, um die die Menge einen deutlichen Abstand latenter Aggression machte. Hier wurde das Schild hochgehalten: „Brandtaktuell für die DDR: gegen die Wiedervereinigung“. Eine kleine Insel im Meer, das auf das Glück eines Blicks auf den Vorsitzenden wartete.

Brandt kam. In der dichtgedrängten Masse der 70.000 ragte sein Kopf als einziger hervor. Der Wahlkämpfer in der Masse, der mit jedem Wort das traf, was die Menschen hören wollten

-ohne ihnen nach dem Munde zu reden. Das war erstaunlich nach den bomastischen Berliner Worten, wie Brandt die Gefühle der Leute fand, ohne je in Demagogie zu verfallen. „Wir stehen am Anfang eines Weges, aber schon ist sicher: ihr, die ihr gesagt habt, wir sind das Volk, habt ein neues Datum gesetzt in der deutschen Geschichte.“

Er beschwor die „Einheit von unten“, um die „Wiedervereinigung“ abzulehnen. Ein „wieder“ werde es nicht geben. Und sofort schlug er das Thema des Wahlkampfes an, mit unüberhörbarer Härte: Er wolle nicht an der Begegnung von Kohl-Modrow herummäkeln. „Aber alle müssen aufpassen, daß sie nicht eine Übergangsregierung mit der künftigen Regierung der DDR verwechseln.“ In immer wiederkehrenden Wendungen beschwor er das Zusammenhalten aller neuen Kräfte. Auf den Zwischenruf „Gysi“ replizierte er: das seien die alten Kräfte. Er warnte zwar vor Volkswut und Aggression gegen die Datschen der SED-Bonzen. Aber im selben Atem verlangte er die Bestrafung all derer, die Freiheit unterdrückt haben. Sie müßten an „Hammelbeinen“ genommen werden. Willy Brandt: „Hier ist viel in Ordnung zu bringen, nicht nur die Häuser brauchen neue Farbe.“

Die Deutschen im Westen hätten nur das „bessere Los“ gezogen, das müsse ausgeglichen werden. „Füreinander einstehen ist des Deutschen erste Bürgerpflicht.“ Es muß zu einer gemeinsamen Währung kommen, aber keine „brutale Währungsreform“ darf geschehen. Der Sparer darf keine Angst haben. Geduld muß abverlangt werden, aber die Ungeduld ist verständlich. „Man darf nicht mehr lockerlassen.“ Brandt brachte das Kunststück fertig, Illusionen zu kritisieren und Hoffnung zu erwecken.

Umgekehrte Reihenfolge - Einheit kommt zum Schluß

Vor allem aber gelang es ihm, die Veränderung der DDR in den internationalen Rahmen zu stellen. „Ich rate euch dringend vor der Versuchung ab, in Konflikte mit dem sowjetischen Militär zu kommen.“ Als Bundesbürger sei er dem Grundgesetz unterworfen, in dem nicht die „Wiedervereinigung“ gefordert werde, sondern die „Einheit der Deutschen“, die Selbstbestimmung, die europäische Einigung und der Frieden. Und dann kam die volkspädagogische Volte: die Rangordnung sei geradewegs umgekehrt - Frieden, Europa, Selbstbestimmung und Einheit. Nach seiner Rede strömte die Menge stumm auseinander. Allenfalls hörte man ein tonloses: „So einen Redner haben wir eben nicht.“ Beim Empfang wurde noch einmal die Tradition beschworen: Es war Ernst Reuters Rathaus vor 1933, Magdeburg war der Geburtsort von Erich Ollenhauer und die Stadt des SPD-Parteitages von 1928 („Rote Stadt im Roten Land“ hieß das Buch von damals). Ein Mann stellte sich vor: Manfred Hubert, geboren 1920 in Auerbach. Auf sein Parteibuch von 1945 schrieb Willy Brandt seine Widmung. Manfred Hubert: „Das ist der schönste Tag in meinem Leben.“ Die Menge rief Brandt noch auf den Balkon, er winkte etwa 30 Jugendlichen zu. Ein zweites Erfurt war es nicht. Auch die Rührung fehlte - schließlich hatte Brandt auch nur den Wahlkampf eröffnet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen