Die Potenz des Marxismus fruchtbar machen

■ „Frauenforscherinnen“ in der DDR melden sich zu Wort. An der Ostberliner Humboldt-Universität gründen Wissenschaftlerinnen das erste Zentrum für „Interdisziplinäre Frauenforschung“. Wie steht es mit ihrem Verhältnis zur aufkeimenden Bewegung?

Als sich Anfang November „Frauenforscherinnen“ in Ost-Berlin in einem offenen Brief an das Zentralkomitee der SED wandten und darin umfassende gesetzliche und politische Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen forderten, mag sich manche erstaunt gefragt haben: Frauenforschung in der DDR?

Während sie bisher ein bescheidenes Dasein in den Nischen der gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Sektionen fristete, strebt sie nun - in der allgemeinen Auf- und Umbruchstimmung - nach Größerem. Am 8.Dezember gründeten Wissenschaftlerinnen an der Ostberliner Humboldt-Universität das erste Zentrum für „Interdisziplinäre Frauenforschung“. Frauen (und Männer) verschiedener Disziplinen wollen dort zunächst Material zur Situation der Frauen und zum „aktuellen Geschlechterverhältnis“ zusammentragen und veröffentlichen, Lehrveranstaltungen konzipieren, später vielleicht auch gemeinsame Forschungsprojekte durchführen. Bis Januar sollen die ersten thematischen Schwerpunkte der Arbeitskreise vorliegen. Die autonomen StudentInnenvertretung forderte vom neugegründeten Zentrum bereits Veranstaltungsangebote fürs kommende Semester. Dann nämlich wird die allseits verhaßte „ML-Ausbildung“ (Marxismus-Leninismus) völlig umstruktiert; in den Studienplänen entstehen Lücken. Vom Otto-Suhr-Institut der Westberliner FU traf schon eine Einladung für eine gemeinsame Ringveranstaltung im Sommersemester ein. Die Leitung der Humboldt-Universität hat für das Zentrum grünes Licht gegeben. Nun fehlt noch ein Raum und zumindest eine Halbtagskraft fürs Büro; geplant ist außerdem eine befristete Stelle für eine wissenschaftliche Assistentin.

Feministin ja...aber...

Den Grundstein für dieses Projekt hat Irene Dölling mitgelegt. Die 47jährige Philosophin ist Professorin an der Humboldt-Universität, Sektion Kulturwissenschaft und Ästhetik. Ihr Schwerpunkt: Kulturtheorie. Im Laufe ihrer Forschungen, wachgerüttelt durch persönliche Erfahrungen und durch Literatur, wie zum Beispiel Maxie Wanders Protokolle Guten Morgen, du Schöne, kam ihr die Erkenntnis, daß es keine „geschlechtsneutrale Kulturtheorie“ gibt. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die strukturelle Benachteiligung von Frauen in der patriarchalen Gesellschaft ließen sie von da an nicht mehr los. „Ich halte mich und meine Forschung für feministisch“, sagt Irene Dölling, „ich weiß aber nicht, ob ich in den westlichen Ländern als Feministin durchgehen würde“, fügt sie nicht ohne Ironie hinzu. Denn: „Ich kann dem Marxismus nicht einfach abschwören“. Vielmehr will sie seine „Potenz fruchtbar machen“, die „Frauenfrage“ in einer neuen Sozialismustheorie verankern. Allerdings sei der Sozialismus inzwischen so diskreditiert, daß es darum im Moment gar nicht mehr gehen könne; gesucht werden müsse vielmehr nach einen „dritten Weg“, wie er auch auf dem SED-Parteitag proklamiert worden sei. Irene Dölling war fast drei Jahrzehnte Mitglied dieser Partei. Vor kurzem ist sie ausgetreten. Enttäuscht, beschämt über das reale Ausmaß des Machtmißbrauchs, den sie jahrzehntelang - „weil ich vielleicht zu idealistisch war“ nicht wahrhaben wollte.

Kleine Zirkel

Als Irene Dölling Anfang 1980 ihren ersten Aufsatz „Zur kulturtheoretischen Analyse von Geschlechterverhältnissen“ veröffentlichte, rief er Diskussionen und Lächeln unter den KollegInnen hervor, die das Thema „komisch fanden. Aber er brachte auch Kolleginnen mit ähnlichen Erfahrungen zusammen. Zehn bis zwölf Kultur- und Sozialwissenschaftlerinnen verschiedener Einrichtungen trafen sich von da an regelmäßig, um über ihre Arbeiten zu diskutieren, gemeinsam Literatur zu lesen. Angeregt durch die Frauenforschung in der BRD, Großbritannien und USA wollten sie auch „so etwas machen“. Aber es dauerte neun Jahre, bis sie mit ihrem privaten Kreis an die Öffentlichkeit traten und nun das Zentrum für „Interdisziplinäre Frauenforschung“ gründeten.

Zuerst war die Forschung...

Universitäre Frauenforschung, besser: Forschung über Frauen, ist in der DDR nicht aus einer (feministischen) Frauenbewegung hervorgegangen. (Das heißt nicht, daß es innerhalb der Unis und außerhalb in kleinen Zirkeln Ansätze für eine feministischen Frauenforschung nicht bereits gibt.) Die offizielle Frauenforschung wurde Mitte der 60er Jahre von oben eingeführt. Dafür wurde ein Beirat beim Ministerrat ins Leben gerufen, der Aufnahme bei der Akademie der Wissenschaften fand. Die DDR litt in jener Zeit großen Mangel an ausgebildeten Fachkräften. Und so wurde besonders unter Frauen eine breite Qualifizierungsoffensive gestartet. Von welchen Motiven aber ließen sich Frauen bei ihrer Berufswahl leiten? Welches waren die Gründe dafür, daß Frauen nach wie vor nicht „gleichberechtigt“ in die gesellschaftliche Produktion eingegliedert waren? Diese und ähnliche Fragen beschäftigten damals die WissenschaftlerInnen. Ab Mitte der 70er Jahre stand dann die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufsarbeit im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Anfang der 80er Jahre wurde der Beirat zum wissenschaftlichen Rat „Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft“ - aufgewertet - ein Gremium handverlesener VertreterInnen aus Wissenschaft, Berufsbildung, Parteien und gesellschaftlicher Organisationen. Alle zwei Monate brachte dieser Rat bisher die „grünen Hefte“ heraus. Darin wurden verschiedenste Untersuchungen und Daten zur Situation von Frauen in der DDR veröffentlicht, an die anderswo nicht heranzukommen war. Nur: die „grünen Hefte“ zirkulierten in engen Kreisen und selbst Leute mit „wissenschaftlichem Nachweis“ fragten oft vergeblich danach.

Zwar haben sich die meisten wissenschaftlichen Räte aufgelöst, doch der Frauenrat hat für sich entschieden: wir machen weiter. Natürlich soll das Gremium demokratisch neu besetzt und umstrukturiert werden zu einer landesweiten Koordinierungsstelle für Frauenforschung, „die hoffentlich bald überall installiert wird“, wie Irene Dölling wünscht. Vor allem die „grünen Hefte“ müßten „gerettet werden“. Darin sollen künftig - für alle Interessierten zugänglich landesweit die Initiativen von Frauenforschung dokumentiert, Ergebnisse veröffentlicht werden und Veranstaltungshinweise erscheinen.

...dann die Bewegung

Seit kurzem nun formiert sich in der DDR eine politische Frauenbewegung. Für die Frauenforschung stellen sich dadurch neue Fragen. In wieweit soll und kann sie sich in die neue Bewegung einklinken? Darüber haben die Diskussionen bereits begonnen. Besonders bei den jüngeren Wissenschaftlerinnen hat Irene Dölling ein starkes Bedürfnis festgestellt, mitzumischen, ihre Arbeitsergebnisse, Kenntnisse und Fähigkeiten der Bewegung zur Verfügung zu stellen. Irene Dölling selbst findet die Aktivitäten der Frauen „ganz toll“, möchte Forschung und Politik allerdings nicht direkt miteinander verknüpfen. „Ich habe keine politischen Ambitionen. Ich sitze einfach gerne da und mache Wissenschaft.“ Jetzt um so mehr, da die „innere Zensur“ weg ist, und „ich freier formulieren kann, was mir am Herzen liegt“.

Doch der akademische Elfenbeinturm ist bedroht. Auch dort werden zur Zeit ganze Bereiche geschlossen, umstrukturiert, Personal abgebaut; besonders Frauen geht's dabei an den Kragen. Schnell müssen sie sich zusammensetzen und überlegen, wie sie ihre Interessen vertreten, wie sie - ganz vorrangig - die Quotierung durchsetzen, wenn sie sich nicht auf unterqualifizierten Arbeitsplätzen oder gar zu Hause am Herd wiederfinden wollen.

Ulrike Helwert