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Als Krüppel das Minenräumkommando verlassen

Ehemaliger NVA-Soldat bricht das Schweigen über die Arbeit im Minenräumkommando an der Grenze  ■  Von Petra Bornhöft

Wenn der frühere NVA-Soldat Rainer Müller (Name geändert, d.Red.) vom DDR-Grenzregiment 6 mit dem linken Arm etwas heben will, „dann schmerzt es, als wenn mich tausend Nadeln stechen“. Splitter einer Tretmine verletzten Unterarm, Bauch und Oberschenkel. An der linken Hand fehlt der kleine Finger. Offiziell gilt der Gefreite als „25 Prozent körpergeschädigt“, darf weder seinem Beruf als Schlosser noch sonst einer körperlichen Arbeit nachgehen. „Faktisch bin ich lebenslang ein Krüppel“, sagt der 24jährige, der 1985 zur Arbeit im Minengürtel an der DDR-Grenze zur Bundesrepublik kommandiert wurde.

Die Einsatzbedingungen in den Minenräumkommandos sind auch heute noch Tabuthema in der DDR. Die Informationen liegen noch immer in den Panzerschränken des Verteidigungsministeriums.

Fast mehr noch als die unmittelbaren Folgen der Verletzung schmerzt Rainer Müller, daß er bis heute eigentlich mit niemandem über die Arbeit in dem Himmelfahrtskommando reden darf. Als der militärische Geheimnisträger Müller in der vergangenen Woche zur CDU-Lokalzeitung in seiner Heimatstadt ging, ließ ihm der Chefredakteur später ausrichten: „Ihre Geschichte ist furchtbar, wir werden sie aber nicht drucken, da wir das Verhältnis zur Nationalen Volksarmee nicht stören dürfen.“

Im November 1984 begann Müller seinen Wehrdienst in der Nähe des Grenzüberganges Zarrentien. „An die Grenze kam nicht jeder, wir wurden nach politischen Kriterien ausgewählt und durften keine Verwandten in Grenznähe haben.“ Im politischen Unterricht erfuhren die Soldaten, daß es gerechtfertigt sei, auf Flüchtlinge zu schießen. „Das sind Verbrecher, Feinde des Sozialismus sagte man uns. Von dem Streifen vor der Grenze erzählten die Gefreiten uns Pionieren, daß dort Selbstschußanlagen hinter dem Minengürtel waren.“ Die Pioniere selbst hatten die Aufgabe „Zaun bauen“ - bis sie hörten, die UNO habe die DDR „aufgefordert, die Minen zu räumen“, sagt Müller.

Er erinnert sich noch genau daran, wie an einem Dezembertag Offiziere durch das Kompaniegebäude gingen und mit dem Finger auf einzelne Soldaten zeigten. „Sie werden die Minen wegräumen“, lautete der knappe Befehl, verbunden mit dem Hinweis, daß die Betroffenen vorher noch einen Sprenglehrgang zu absolvieren hätten. Unter den 50 „„Auserwählten“ der Kompanie gab es kaum jemand, der nicht Angst gehabt hätte vor dem gefährlichen Auftrag - aber niemand verweigerte offen den Befehl. „Man war erzogen, zu gehorchen“, erklärt Müller sein Verhalten, „es war sinnlos, zu demonstrieren. Man konnte sich in der Armee nicht wehren.“

Am 22. März 1985 streiften die Männer ihre Overalls mit Asbestgeflecht auf der Brust und Handschuhe über, zogen ins Minenfeld. Zwei Meter vor der ersten - nach alten Lageplänen mit roten Streifen markierten Minenlinie mußten sie hinknieen. Mit einem zwei Meter langen Stab suchten die Soldaten die Minen. War der Deckel berührt, mußten sie mit einem anderen Stab, an dessen Spitze eine Schaufel befestigt war, das Ding freilegen. Ebenfalls knieend. Acht Stunden am Tag. Für 18 Mark Zuschlag täglich auf den monatlichen Wehrsold von 180 Mark. Diejenigen, die vorsichtig und entsprechend langsam arbeiteten, ermahnten die Vorgesetzten in eigens anberaumten Gesprächen zu „mehr Leistung“. Müller hatte nie so ein „Gespräch“, er schaffte täglich 25 Minen freizulegen. Dreimal kam es dabei zu einer Explosion - „ohne daß mir oder meinen sechs Meter entfernten Nachbarn Schwerwiegendes passierte. Es knallte täglich bei uns, im Schnitt drei bis vier Auslösungen der Minen. Immer wenn den Leuten nichts passiert war, mußten sie nach kurzer Zeit wieder ins Feld.“ Doch auch diejenigen, die die Arbeit ohne gravierende Verletzungen überstanden, leiden heute an den physischen und psychischen Folgen.

Müller arbeitete vier Wochen, bis ihn Ende April „eine Mine mit dem Deckel angeguckt hat“. Sie ging hoch. Müller verspürte heftige Schmerzen im Bauch und im Arm. Sanitäter trugen ihn in ein Zelt, banden ihm den Arm ab. Die 50köpfige Truppe stellte die Arbeit ein. Bevor der Verletzte in einen Sanitätswagen gehoben wurde, trat ein Feldwebel an die Trage und sagte: „Hiermit belehre ich Sie, daß Sie zur Geheimhaltung verpflichtet sind.“ Dieser Satz und kein zusätzliches Wort.

Er durfte nicht reden, das wußte Müller nun, aber mit ihm durfte auch niemand sprechen, und sehen sollte man den Verletzten erst recht nicht. Das merkte er bereits im Ambulatorium Zarrentien, „wo alle Leute rausgeschickt wurden, als ich kam“. Bereits eine Woche nach der Operation im Kreiskrankenhaus holte die Armee den Patienten trotz ärztlichen Protestes ab, legte ihn ins Militärhospital Neustadtglewe. Darauf folgte ein Aufenthalt in der „Medizinischen Station“ des Grenzregimentes 6. „Da konnte ich nicht mehr, war psychisch fertig. Ich war entweder immer allein oder höchstens zu zweit im Zimmer. Spürte, daß die Angst haben, ich könnte über das Tabuthema Minenräumkommando reden. Das hat mir dann auch irgendwann der Regimentsarzt so vorgeworfen.“

Mit einem Gutachten über den „25prozentigen Körperschaden“ entließen die Militärs Rainer Müller aus dem Krankenhaus und aus der Armee. Nicht ohne ihm ausdrücklich einzuschärfen: „Vergessen Sie, was Sie gesehen und gehört haben. Vergessen Sie auch die Namen Ihrer Vorgesetzten und der Ärzte, die Sie operiert haben.“ Müllers Kompaniechef beim Minenräumkommando, Hauptmann Lorenz, wurde nach Beseitigung der letzten Mine im September 1985 zum Major befördert.

Auch Gefreiter Müller erhielt seinen Lohn. „Als Dank und Anerkennung für die hervorragenden Leistungen bei der Erfüllung der politischen und militärischen zum zuverlässigen Schutz der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik“ einen Zettel mit ebendiesem Text, unterzeichnet vom Chef der Grenztruppen. Etwas imposanter der in Kunstleder gebundene Papier-Orden „Banner der Arbeit Stufe III“ (siehe Abb.) Die künftige „Nichtteilnahme am sozialistischen Gesellschaftsleben“ beglich der Staat mit einer einmaligen „Wiedergutmachung“ in Höhe von 2500 Ost -Mark. Eine monatliche Unfallteilrente von 100 Mark verrechnete die Sozialversicherung mit dem Lohnausgleich, um den seine Bezüge als Verkehrskaufmann aufgestockt wurden bis zur Höhe eines Schlosserlohnes. Nach langem Kampf um jede Mark erhielt Müller insgesamt 678 Mark für einen ungeliebten, „administrativen Job“.

Den hat er mittlerweile zugunsten einer Beschäftigung in einem FDJ-Kulturhaus aufgegeben. Zwar trauert er dem Schlosser-Beruf nach, aber zwischen den „Autonomen, Punks und Red Skins“ im Haus fühlt er sich doch ein bißchen wohl. Besonders seit den ersten Demonstrationen in seiner Stadt, „man braucht sich nicht mehr zu verstecken als Individuum“.

Warum Müller nach über vier Jahren seine Geschichte erst Freunden und dann der Zeitung erzählt hat? Weil auch er jetzt um eine höhere Wiedergutmachung kämpfen will. Mehrmals indes wiederholt der frühere NVA-Angehörige: „Ich muß das loswerden.“ Zu Beginn des Gesprächs hatte Müller behauptet, er sei „über das Ding hinweg“.

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