„Gnä‘ Frau, es ist Silvester“

■ In der Polizei-Notrufzentrale nachts um halb eins: Das erste Todesopfer des neuen Jahres wird gemeldet, Randale in Kreuzberg und Beschwerden von Bürgern, die wegen der alljährlichen Silvester-Knallerei nicht schlafen können

Die große Wanduhr in der Funkbetriebszentrale der Polizei zeigt 23.32 Uhr. Aus den Deckenlautsprechern dudelt leise Rias2, über den Monitor des in Augenhöhe installierten Fernsehers schwappt gerade die ZDF-Silvesterparty. Vor und hinter der Glascheibe, die den Senderaum von der 110 -Notrufzentrale abteilt, tummeln sich neben den Terminals und Telefonapparaten 39 Beamte und eine Beamtin. Alle sind in dieser Nacht von 19 Uhr bis Neujahrsmorgen 7 Uhr im Dienst. Die Uniformjacken sind schon lange abgelegt, aber die Hemdsärmel sind noch nicht aufgekrempelt. „Um 0 Uhr geht's hier schlagartig los“, prognostiziert Wachleiter Köhler, dem die Funkbetriebszentrale in dieser Nacht untersteht. In das Allerheiligste, den mit 14 Bildschirmen ausgestatteten Senderaum, von dem über sieben Funkkreise sämtliche Einsätze der Funkwagen koordiniert werden, darf die taz nur einen Blick durch die Glasscheibe werfen, sich dafür aber in der 110-Notrufzentrale frei bewegen.

Zwölf meist sehr junge Beamte sitzen in einer langen Reihe vor jeweils einem Telefon, das an einen mischpultähnlichen Apparat mit Dutzenden von Knöpfen und Schaltern angeschlossen ist: Sämtliche 110-Notrufe in der Stadt werden von den Beamten entgegengenommen. Jedes Gespräch wird auf einem Meldungszettel verbucht. Wenn ein Notfall vorliegt, das heißt ein Funkwagen benötigt wird, wandert die Meldung in die Flaschenpost und wird mittels dieser hinter die Glasscheibe in den Senderaum zu den Funkern befördert. Über 110 eingehende Feuerwehr- und Krankenwagenanforderungen werden mittels Standleitung direkt an die Zuständigen weitergegeben. Doch die nur für Not- und Gefahrenfälle gedachten Telefonziffern werden immer wieder mißbraucht. Daß Bürger über 110 anfragen, ob sie ihren „Fiffi mit über die Grenze nehmen können oder welche Übergänge für sie am günstigsten sind“, ist laut Köhler keineswegs ein Einzelfall. Ebensowenig, daß „Bürger anrufen, weil sie Telefonnummern, Adressen oder einfach nur das Datum oder die Uhrzeit wissen wollen“.

Um 23.57 Uhr kommt plötzlich Bewegung auf: „Wrangelstraße, Demo, Scheiben eingeschmissen“, gibt einer der jungen Beamten in Kurzform an seine Kollegen weiter. „Berliner Bank, da haben sie alle Scheiben eingeschmissen, alles Vermummte“, ergänzt sein Kollege, der schon den nächsten Anrufer an der Strippe hat. „Gebt gleich an die Direktion V weiter, da müssen die Einsatzbereitschaften hin“, werden die Beamten im Notruf-Cockpit von ihrem Chef knapp angewiesen. Kurz darauf schlägt es 0.00 Uhr. Doch für einen Händedruck oder Schulterschlag und ein kurzes Anstoßen mit der Colabüchse oder Kaffeetasse bleibt nur noch den Wenigsten Zeit. Die Anlage klingelt ohne Unterlaß, und während die Beamten noch sprechen, zeigen die Lichter auf der Warteleiste bereits die nächsten Anrufer an. Der Raum ist von einem einzigen Kauderwelsch der Beamten vom Notruf 110 erfüllt, die einmal leise, mal lauter in den Hörer sprechen oder schreien: „Feuer? Ja wo denn?“ - „Wohin denn?“ - „Wie heißt die Straße?“ „Schreien Sie doch nicht so, ich kann Sie nicht verstehen!“ „Welche Straße?“ - „Vorderhaus oder Hinterhaus?“ - „Welches OG“? Sämtliche Balkone, Wohnungen und Dachböden der Stadt scheinen zu brennen, für Verletzte und Ohnmächtige wird um Hilfe gerufen. Vergebens versuchen die Beamten, dem Anrufer zu verklickern, daß in der Stadt Ausnahmezustand herrscht und die Feuerwehr unmöglich in zwei Minuten da sein kann. Um 0.43 Uhr wird das erste Todesopfer des Jahres aus dem Wedding gemeldet und Verstärkung durch Beamten des SEK (Sondereinsatzkommandos) angefordert, weil sich der Täter in einer Wohnung verbarrikadiert hat. Aber an der 110-Notrufstrippe hängen in der Nacht auch ganz andere, und zwar zuhauf: „Wat is los?“ - „Bei Ihnen knallt's?“ „Gnä‘ Frau, es ist Silvester, da können wir Ihnen auch nicht helfen.“ Oder solche: „Was heißt da Hausfriedensbruch?“ „Was ist denn vorgefallen?“ - „Gar nichts ist vorgefallen? Dann kommt auch nicht die Polizei!“ Und solche: „Bei Ihnen am Wagen ist der Mercedesstern abgebrochen worden?“ - „Und was sollen wir jetzt tun?“ - „Sie haben den Täter gestellt, und wir soll'n jetzt eine Streife vorbeischicken?“ fragt der Beamte ungläubig und faßt sich mit einer eindeutigen Bewegung an den Kopf.

plu